Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 47)
Europäer: Aufbrechen zu neuen Ufern! Das ist die Losung der Stunde.
Ist es nicht eigenartig? Vor der Abstimmung in England warf man sich vor, die Folgen eines Brexit zu unterschätzen. Man bemühte die Angst, um Wähler und Unschlüssige noch schnell ins altbewährte Boot zu holen. Die Gegenseite pries wortreich die kaum auszulotenden Vorteile eines Verbleibs, man beschwor gemeinsame Geschichte und Kultur. Aber nichts hat geholfen. Und die Welt ging doch nicht unter. Das ist jetzt schon wieder eine Weile her. Neue Themen dominieren die Medien, neue Probleme lassen neue und alte Ängste wieder erwachen. Da bleibt keine Zeit, in aller Ruhe und ernsthaft über das nachzudenken, was Wähler wohl mit ihrem überraschenden Votum eigentlich mitteilen wollten und was die Folgerungen daraus sein sollten. Stattdessen starrt man wie die Maus vor der Schlange auf die Schlangenkurve der Börsenkurse. Wen interessiert das eigentlich? Wie viele Bürger Europas haben denn Aktien in ihrem mageren Budget? Warum redet niemand mehr mit denen, die nach wie vor die Wohltaten der EU nicht so recht sehen können? Die Hektik duldet einfach kein Nach-Denken, könnte man meinen.
Dabei könnte man es auch d i e Gelegenheit für eine Grundsatzdebatte nennen, was im Moment durch die unvorhersehbaren Unberechenbarkeiten des Brexits an Veränderungen gemeinsam angegangen werden könnte. Die Gunst der Stunde – werden vielleicht einmal später rückblickend kritische Geister sagen – ließen die Europäer ungenutzt verstreichen.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind mehr als siebzig Jahre vergangen. Die westeuropäische Vereinigungswelle von damals – es war nun wirklich nicht der reine Idealismus, der die verstörten Europäer damals so etwas wie Annäherung versuchen ließ, nein, es war auch die Ideologie des Kalten Krieges, die damals wortgewaltig aus der Taufe gehoben wurde. Angst war auch da der probate Ratgeber.
Und es funktionierte auch ganz ordentlich – mehrere Jahrzehnte lang zumindest.
Jetzt gibt es allerdings einen neuen ideologischen Januskopf – die Globalisierung. Mit ihr lässt sich freier Welthandel genauso gut verkaufen wie lukrative Rüstungsgeschäfte, Flüchtlingselend und Billiglohnländer.
Aber alter Wein aus neuen Bechern wird eben kein neuer Wein; der schale Geschmack, den die Verlierer des globalen Spiels nur zu deutlich empfinden, bleibt und kann nicht schön geredet werden.
Was könnte denn da die Gunst der Stunde sein?
Die Völker Europas sollten sich trauen, eine neue, zukunftsträchtige Identität zu diskutieren und zu projektieren. Jenseits von nationalistischen Ausschlusskonzepten. Die vielen fremden Menschen sollten als Chance gesehen werden, diese neue Identität gemeinsam zu entwickeln – ohne ein besser oder schlechter, ohne ein stärker oder schwächer, ohne ein richtig oder falsch, eben auf Augenhöhe aller Beteiligten, von wo auch immer sie gekommen sind und an was auch immer sie privat glauben wollen.
Was die Gunst der Stunde auch klar machen sollte?
Dass die traditionellen Muster der Nachkriegszeit keine Blaupause sein können für eine multikulturelle Zukunft in Europa. Weder in Frankreich, noch in England, noch in Spanien oder in Italien (um nur ein paar bekannte Kandidaten zu nennen) und auch nicht in Deutschland. Die ersten gemeinsamen Schritte werden nur gelingen, wenn keiner auftritt, als wüsste er, wie es in zwanzig, dreißig Jahren auszusehen habe in Europa. Viele runde Tische sind angesagt – auf allen Ebenen (sowohl inhaltlich wie auch formal) mit Hilfe einer Geschäftssprache und ohne die Anmaßungen einer wie auch immer gemeinten Leitkultur. Gelebte Demokratie der neuen Art wäre das dann!
Das Altbewährte erweist sich da in jedem Falle als Hemmschuh, als Leerlauf, ja sogar als Anmaßung. Und die traditionellen politischen Parteien sollten schleunigst ihre Litanei-Formate aussortieren, wenn sie nicht alle noch viel schmerzlicher abgemahnt und abgestraft werden wollen. Die Begabungen der jüngsten Jahrgänge müssen in einem optimistischen Modell sprachlicher Teilhabe gefördert und belohnt werden – in echter Chancengleichheit für alle, die guten Willens sind.
Was die Gunst der Stunde möglich machen könnte?
Ein produktives Dreieck zu bilden aus denen, die schon da sind und denen die dazu kommen und die gemeinsam aufgehoben werden in einem dritten gemeinsamen neuen Gemeinschaftsgebilde, an dem alle mitarbeiten und für das alle gleichermaßen wichtig sind.
Eine angstfreie und offene Losung für eine bessere Zukunft in Europa also!