Europa – Mythos # 41
Ein Bettler macht den verzagten Frauen Mut
Sarsa hält den Atem an. Was, wenn Nemetos den Rausch nicht überlebt? Ängstlich beugt sie sich über den reglos daliegenden Mann; sie versucht ihn atmen zu hören. Inzwischen ist es so dunkel in der übel riechenden Hütte ihres Zwangsgatten, dass sie ihn kaum noch erkennen kann. Sie meint, ihn atmen zu hören. Erleichtert richtet sie sich wieder auf. Da kommt ihr der rettende Gedanke: Ich muss zu Belarsi, muss wissen, wie es ihr mit Thortys gegangen ist, ob der auch wie tot da liegt. Tastend sucht sie den Ausgang zu finden, stößt mit der Hand heftig gegen die Brettertür. Ein Schmerz fährt ihr durch den Arm. Sie muss sich einen Splitter unter den Fingernagel gerammt haben. Tapfer unterdrückt sie einen Schmerzensschrei. Mit der Zunge sucht sie die Stelle, schmeckt ihr Blut, fühlt den Splitter. Schnell zieht sie ihn mit ihren Vorderzähnen heraus. Glück gehabt. Der eigenartige Geschmack des Blutes gefällt ihr. Vorsichtig späht sie auf die dunkle Gasse. Kein Mensch weit und breit. Schnell schlüpft sie ins Freie. Sie ist völlig verwirrt: Wie soll das weiter gehen? Chandaraissa kann doch nicht Nacht für Nacht dieses Getränk für sie bereit stellen. Sternenhimmel über ihr. Der Anblick beflügelt sie. Als sie aber auf die Hütte von Belursi und Thortys zu schleicht, bleibt sie wie vom Blitz getroffen stehen, hält vor Schreck den Atem an. Da ist eine Gestalt direkt vor ihr.
„Keine Angst, Sarsa, es wird alles gut werden. Ich habe hier ein kleines Geschenk für dich, über das sich deine Freundin Belursi sicher freuen wird. Hier, nimm nur!“
Wie Eisregen prasseln die Fragen auf sie ein, die in ihrem Kopf durcheinander purzeln. Gleichzeitig läuft ihre eine wohltuende Gänsehaut den Rücken herunter. Woher kennt der meinen Namen, wer ist das? Den habe ich noch nie gesehen. Warum habe ich keine Angst, jetzt? Ohne zu zögern, greift sie zu, als der Bettler ihr seine Hand entgegenstreckt. Wie ein warmer Schwindel fegt ein fremdes Gefühl durch ihren Körper, als sie den Stein in ihrer Hand spürt. Glatt, fast in der Form eines kleinen Vogeleis. Kühl fühlt er sich an. Kühl? Wie…? Sarsa ist völlig verwirrt, aber guter Dinge, eigenartigerweise.
„Danke. Wo kommst du her, ich habe dich hier noch nie gesehen? Bist du gerade am Palast angekommen, bist du nicht von der Insel? Was machst du hier in dieser Gasse? Und wie heißt du überhaupt?“
Sarsa wundert sich selbst über ihre Fragen. Aber ihre Neugierde hat ihr Lust gemacht, den Bettler mit Fragen zu überhäufen. Fast hätte sie vergessen, dass sie doch zu Belursi eilen wollte, um zu sehen, ob es der Freundin genauso mit Thortys gegangen ist, wie ihr mit Nemetos. Der Fremde lacht:
„Sysoniod. Geh nur zu Belursi. Sie wartet schon auf dich. Sie sehnt sich sogar nach dir.“
Jetzt wird ihr aber wirklich unheimlich. Sysoniod? Nie gehört. Er kennt auch Belursi? Ist es vielleicht ein Spion von Sardonios, der sie ans Messer liefern soll? Sarsa wirft die Fragen lachend in den Wind. Sie spürt, wie sehr sie sich nach ihrer Freundin sehnt. Im Davonlaufen ruft sie noch leise ein „Danke!“ zu dem eigenartigen Fremden und hastet weiter zur Hütte des Nemetos. Ohne zu zögern öffnet sie das, was wohl die Tür sein soll, erkennt schemenhaft einen Mann, der am Boden liegt und neben ihm Belursi. Kichernd. Da muss sie auch kichern und wirft sich jauchzend auf die Freundin. In der einen Hand hält sie das Geschenk, mit dem sie jetzt Belursi über den Bauch fährt. Da löst sich ein leises Stöhnen aus dem Mund der Freundin.
„Komm!“ flüstert Belursi, „ich habe schon so auf dich gewartet.“
Und bevor Sarsa überhaupt noch etwas lachend erwidern kann, spürt sie die feuchten, weichen Lippen von Belursi auf den eigenen. Inbrünstig erwidert sie diesen lüsternen Kuss und wundert sich, dass ihr dieser Augenblick irgendwie bekannt vorkommt. Hatte sie diese leidenschaftliche Umarmung, in die sie sich nun fallen lassen, schon geträumt oder sogar phantasiert? Und warum ist da auch nicht ein Sandkorn von Angst mit dabei? Warum kann ich das jetzt so genießen? Der Stein, so rund und glatt geformt in ihrer Hand, wandert – als wäre er solcher geheimer Wege längst schon kundig – zwischen ihnen hin und her. Selbst das Bild des Fremden stört sie nicht in ihrem Genuss. Er ist mit dabei. Die beiden können lange nicht mehr von sich lassen, küssen, streicheln und verwöhnen sich mit unsagbaren Zärtlichkeiten. Neben den Liebenden liegt im Dunkeln der betäubte Thortys sabbernd da und weiß nichts von ihrem Glück.