Europa – eine neue Gemeinschaft verwandter Geister (# 64)
Die lebendige Gemeinschaft verwandter Geister
Das ist es, was den homo sapiens seit jeher umtrieb. Zuletzt sehr anschaulich verdeutlicht von Y. N. Harari in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ – und genau das fehlt den Menschen mehr und mehr in der sogenannten globalisierten Welt: Eine lebendige Gemeinschaft verwandter Geister.
Wenn es also darum gehen soll, Europa neu zu erfinden, dann kann es einfach nicht eine EU light oder eine EU smart oder eine EU future oder so ähnlich sein.
Was denn dann?
Wie nach einer heißen Dusche sollten die Völker Europas die „Amerika first“- Botschaft nutzen, um aufzuwachen aus dem falschen Traum einer transatlantischen Freundschaft, die so nie bestanden hat.
Nach dem Zweiten Weltkrieg diktierten die Sieger – vorneweg die USA – den Besiegten die Bedingungen für einen Neuanfang, der nichts anderes war, als Juniorpartner für eine Volkswirtschaft sein zu dürfen, die sich von Kriegs- auf Friedenswirtschaft umstellen musste. Der Marshall-Plan – die Basis für das sogenannten Wirtschaftswunder (wo doch jeder weiß, dass es in der Wirtschaft nie mit Wundern zugeht, sondern nur mit geliehenem Geld und Zinsen und Wachstum) – war der Einstieg in die Verleugnung eigener Wertvorstellungen, die über Jahrhunderte in Europa gewachsen waren (verwandte Geister eben alle – Europäer eben)und die die europäischen Auswanderer drei Jahrhunderte früher drüben nachhaltig aus dem Blick verloren hatten, in dem sie eiskalt und berechnend (Landbesitz, Holzbesitz, Baumwollplantagen und Bodenschätze) die Ureinwohner ausrotteten, Bewohner Afrikas stattdessen als billigste Arbeitskräfte einführten und als Sklaven hielten. Ihr „Erfolgsrezept“ sollten nun auch in Europa durchgesetzt werden. Dazu mussten sich die Besiegten nur ihrer gewachsenen verwandten Denkmuster entledigen im Tausch für wachsenden Wohlstand und Konsumgüter für alle. So wuchs eine millionenfache Menschenmenge heran, die gerne bereit war, die eigenen geistigen Haltungen einzumotten, um brav mehr zu verbrauchen, als man brauchte. Zunehmend geistlos und nur noch an Sachen interessiert.
Die Verwüstungen, die so im Innern der Menschen und in ihrer Umgebung wuchsen, sind nun nicht mehr zu übersehen und wegzureden.
Doch mehr und mehr scheinen die Menschen den Botschaftern der Wachstumswirtschaft nicht mehr glauben zu wollen. Seelenloses Zeugs anzuhäufen kann eben einfach nicht wirklich begeistern. Ihre beschwörenden Reden, man müsse jetzt erst recht so weiter machen, noch mehr verbrauchen, noch mehr Märkte erschließen, zünden nicht mehr.
Offensichtlich sehnen sich die Menschen zurück zu der lebendigen Gemeinschaft verwandter Geister – da können sich dann die Seelen wieder wirklich begegnen.
Europa als ein Land vieler Ausprägungen solcher Gemeinschaften, in denen man sich auskennt, in denen man mit verwandten und vertrauten Menschen arbeitet, feiert, lacht und selig alt bekannte Lieder schmettert.
Die zunehmende Verrohung auf dem Planeten – die Europäer waren maßgeblich daran beteiligt und bedienten sich sattsam und ungeniert weltweit – lässt die Menschen in Europa innehalten: Es war zwar eine ziemlich friedliche Epoche zumindest in Europa, aber der innere Unfrieden nimmt zu, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Was stimmt denn da nicht?
Der ehemalige Juniorpartner ist erwachsen geworden, der Ziehvater will sich nun um sich selbst kümmern. Ein günstiger Augenblick also, sich auf das leichtfertig verdrängte Eigene zu besinnen. Und das geht nur in überschaubarem Rahmen.
Harari vertritt die These, der homo sapiens befand sich als Jäger und Sammler in geradezu paradiesischen Verhältnissen: Er kannte sich aus, bewegte sich viel in einem vertrauten Gebiet, ernährte sich ausgewogen und erfand eine Sprache, in der er sich mit seinesgleichen verständigen konnte – eine fiktive Sprache, was heißt, dass erstmals mit Hilfe von Sprache Welten erfunden wurden, die es in der Wirklichkeit nicht gab, an die man aber glauben konnte, weil die, mit denen man lebte und arbeitete, ebenfalls daran glaubten. Gemeinschaften von circa hundertfünfzig Menschen – eine lebende Gemeinschaft verwandter Geister. Das setzte ungeahnte Kräfte frei. Danach begann der homo sapiens leider sesshaft zu werden, legte Vorräte an, erfand das Eigentum und den Streit um Besitz, meint Harari.
Es müssen – auch heutzutage – überschaubare Gruppen von Menschen sein, die sich kennen und die sich als verwandte Geister begreifen können. Und in verwandten Sprachen an die Ideen glauben, die sie gerne miteinander teilen wollen. Jenseits der Anonymität unüberschaubarer Massen findet sich der homo sapiens (und die Europäer sollten klug genug sein, das zu akzeptieren) immer wieder in kleineren Gemeinschaften wieder – ob es nun der Kiez oder das Viertel, die Region oder die Insel ist (Korsika zum Beispiel) – immer fühlt er sich da als Teil einer Gemeinschaft verwandter Geister.
Und deshalb ist ein Konstrukt wie die EU kein gemeinschaftsbildendes Instrument. Es ist lediglich eine praktische Geldmaschine, in der kluge Geister ihre Gewinne als Gemeinschaftsprodukt verkaufen, während in Wirklichkeit die Gemeinschaft in eine anonyme Masse von Fremdarbeitern geknetet wird, in der alle die, die nicht Schritt halten können, sich krank melden dürfen: burn out. Ausgebrannt zu deutsch. Notfalls verlagert man eben die Produktion nach Timbuktu. Die EU wird schon die arbeitslosen Europäer irgendwie auffangen. Oder? Und die Werbung hämmert dem Rest Tag und Nacht schön bunt und laut ein, dass alles in bester Ordnung sei. Die Staus auf den Einbahnstraßen und der dreckige Dunst über den großen Städten können ja in schönen Orten der Südsee weg geträumt werden – alles inklusive.
Die kleine Schweiz – mitten im verschuldeten EU-Umfeld – könnte vielleicht ein Modell sein, das den Europäern den Schritt hin zu einer überschaubaren Verkleinerung der Gemeinschaften als Erfolgsmodell verdeutlichen mag: Da gibt es mehrere Sprachen, mehrere Volksgruppen, mehrere Gemeinschaften verwandter Geister, die einiges an Bern abgegeben haben, das meiste aber doch lieber selbst verwalten und gestalten. Die Kantone. Man kennt sich eben schon „ewig“ und weiß um die Stärken und Schwächen der Nachbarn, denen man selbstverständlich hilft, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Ist doch klar. Warum sollten die Schweizer teil einer EU sein? Sie haben auch so weltweite Kontakte und kommen gut zurecht. Warum sollten die Europäer weiter den EU-Anonymus anbeten? Sie haben auch so weltweite Beziehungen und untereinander kennen sie sich doch auch schon so lange. Die verschiedenen europäischen Länder als Kantone – sehr selbständig und doch klug miteinander vernetzt und verbunden. Vielleicht käme dann auch wieder so etwas wie gute Laune auf, weil man wieder eine lebendige Gemeinschaft verwandter Geister ist und nicht ein wüster Haufen konsumierender „Hechler“, die um jeden Preis gegeneinander konkurrieren müssen.
Lug und Trug und Gier sind die drei Eckpfeiler dieses unseligen babylonischen Turmbaus EU. Eine längst viel zu groß geratene Beamtenbude, die dazu neigt sich zu verselbständigen. Was für eine Verschwendung! Wer hat denn zu so etwas eigentlich noch Lust? Dazu ist das Leben doch viel zu kurz und die Freuden viel zu nahe liegend. Oder?
Summa: Die Gunst der Stunde – das MOMENTUM des historischen Augenblicks – liegt uns allen Europäern vor den Füßen: Der große Bruder schmollt in der Ecke in Übersee, das EU-Gebilde wiederholt sich nur in Plattitüden oder Angsttiraden, in vielen Regionen Europas besinnt man sich auf die eigene Geschichte und Kultur und freut sich über gut nachbarliche Beziehungen. Weniger EU wäre dann mehr Europa. Mehr lebendige Gemeinschaften verwandter Geister, die sich gerne besuchen, aber auch gerne unter sich sind. Und auf eine gemeinsame Verteidigung dieser lebendigen Gemeinschaft Gleichgesinnter würden die sich sicher auch bereit finden. Und für die, die die EU für das non plus ultra halten, könnte man ja abschließend anmerken: Alles zu seiner Zeit. Die Nachkriegsjahre, der Wiederaufbau, das Zeitalter des Kalten Krieges, das Vernetzen von Energien, all das hat Europa dahin gebracht, wo es jetzt ist. Und es hat eine Menge gekostet. Jetzt kann es – wie in einer zweiten Geburt – die eigene Geschichte selbstbewusst und ohne jede Bevormundung in eigene Hände nehmen. Eine große, verwandte Familie, eine lebendige Gemeinschaft verwandter Geister eben. Eine völlig neue Epoche.