Europa – Mythos # 51
Europa und die jungen Priesterinnen tanzbegeistert
Während die Brüder widerwillig losziehen, um ihre Schwester Europa zu finden und sie dem tobenden Vater zu übergeben, tanzt diese gerade den jungen Priesterinnen verschiedene Figuren vor. Weit ausholende Schritte, Arme wie Propeller um den schlanken Körper sausend, das leichte Gewand wild wehend im Schwung der Tanzschritte. Staunend folgen sie neugierig diesen ausladenden Bewegungen. Und wie sie dabei strahlt, wie sie lacht. Lalia und ihre Freundin Meleia können es gar nicht fassen. Sie klatschen, quietschen, kichern.
„Los, jetzt seid ihr an der Reihe“, ruft Europa noch ganz außer Atem den lachenden Frauen zu.
Oh je, das überrascht sie alle, obwohl doch jeder weiß, dass fleißig geübt werden muss.
„Stellt euch in drei Reihen hintereinander auf und schaut einfach auf mich, ich mache es vor.“
Chandaraissa, die im Schatten einer alten Zeder zuschaut, schmunzelt. Sie kennt die jungen Frauen nur zu gut. Sie möchten es gleich können. Aber üben?
Gleichzeitig brütet in seinem fensterlosen Palastraum Sardonius, der Herr der Sicherheit, vor sich hin. Was plant Archaikos? Warum hat er den ungehorsamen Priesterinnen gestattet, ein Tanz-Fest zu gestalten? Warum hat er, Sardonius, nicht die Oberaufsicht darüber? Ist er der Fremden, Europa, verfallen?
„Was gibt es denn?“ knurrt er möglichst unfreundlich, als sein Schreiber, Lermas, im Türrahmen steht und darauf wartet, gehört zu werden.
„Verzeiht, Herr“, dabei macht er eine besonders tiefe Verbeugung, „draußen stehen drei Bettler, die fragen, ob sie im Tempel der Göttin, beten dürften, heute?“
„Meinetwegen“, ist alles, was er dem Schreiber vor die Füße wirft. Was ist denn in die gefahren, denkt er noch, bevor er sich wieder seinem Brüten zuwendet. Was bahnt sich an? Braut sich etwas über mir zusammen? Sollte ich etwas wissen, das ich nicht weiß?
Die Sonne unterdessen verwandelt die Insel wieder in einen lautlosen Ort, Tiere wie Menschen suchen Zuflucht in Höhlen und Häusern. Allen macht die Hitze arg zu schaffen.
Nur im Tempel der Göttin, genauer gesagt, im Vorraum, dem säulenumstandenen, ist noch so etwas wie Kühle zu spüren. Nicht aber bei den Priesterinnen, die haben sich nämlich begeistert heiß getanzt.
Europa ist sehr zufrieden. Die jungen Frauen haben Feuer gefangen, ihre Befangenheit ist verflogen, sie bewegen sich fast wie Nymphen im Wasser – so leicht und hingebungsvoll.
„So, jetzt das Ganze noch einmal, dann soll es genug sein für heute“, ruft sie der Frauenschar zu. Dabei nimmt sie im Augenwinkel wahr, dass am Eingang zum Vorraum drei Gestalten herumlungern, die scheinbar unschlüssig dahocken, als warteten sie auf etwas. Ein ungutes Gefühl beschleicht sie unversehens. Da schauen sie aber schon die Priesterinnen erwartungsvoll an.
„Gut, also noch einmal von vorne!“