Historischer Roman II YRRLANTH – Leseprobe

Blatt 200 – Pippas Traum – Atawima nimmt sie an ihre Hand.
Die Erschöpfung siegt schließlich über die müden und völlig durchnässten Männer, genauso wie über Pippa und Sumil. Aber es wird kein erholsamer Schlaf werden, der sie da empfängt. Das Zittern der Glieder fährt ihnen bis in ihre Träume, die von grässlichen Gruselwesen bevölkert sind und an ihnen zerren wie üble Quälgeister, giftige Schlangen und geflügelte Drachen. Pippa träumt.
„Hihihi, was glotzt du so?“ kichert Didalos, der Obertroll aus der uralten Buche, die vom Blitz gespalten ächzend dennoch weiter lebt, „ich werde dir helfen, dein lästiges Kind loszuwerden!“ Pippa schaut sich dabei selber zu, wie sie vor ihm fliehen will und zu schreien versucht: „Geh weg, geh weg, ich brauch dich nicht!“ aber nur ein elendes Röcheln zustande bekommt, über das dieser Didalos nur höhnend grinsen kann. Jetzt rutscht sie in dem schlammigen, stinkenden Boden ab, immer schneller, immer tiefer, sie verliert das Gleichgewicht, kann Sumil nicht festhalten, stürzt in einen düsteren Abgrund. Plötzlich ist sie geblendet, ein greller Lichtball rast auf sie zu, wird sie überrollen, wird sie…“Was weinst du denn, Pippa?“ träufelt ihr ganz weich und leise eine Stimme ins Ohr. Zuerst denkt sie, es ist ein Wassertropfen, dann weiß sie aber, es ist eine Stimme. Sie kennt diese Stimme. Sie fällt nicht mehr, sie fliegt, meint sie. Nach oben, nach unten, in die Nacht? „Ich will doch gar nicht weinen, ich will…“ stottert sie dagegen. „Ich kann nichts sehen, wo ist Sumil, wer bist du?“ Immer mehr Fragen überfallen sie. Die Wörter purzeln durcheinander, sie haben keinen Sinn mehr, sind nur nass und kalt und sprachlos auch. Wie das? Da weiß sie unvorhergesehen, was sie fragen muss: „Wie heißt du?“ Von weiten verfolgt sie immer noch das lärmende Gelächter des hässlichen Obertrolls, der mehrere Mäuler zu haben scheint, die alle grölend prusten und unverständliche Sätze ausspucken. „Das weißt du doch!“ kommt jetzt in einem einschläfernden Singsang die Antwort. Aus der hellen Lichtkugel tritt eine Gestalt, eine Frau, eine Göttin, Atawima. Da sprudelt es wie eine kleine, kühle Quelle aus ihr heraus:“Soju, toju, waltantaju…Atawima, steht uns bei!“ Und sie kennt jetzt auch die Stimme: es ist Somythalls Stimme, sie sagt ihr das alte Gebet vor, sie…da nimmt sie die Frau an die Hand, sie schwebt über dem Abgrund, ihr ist gar nicht schwindlig und Sumil ist ganz leicht in ihrem Arm. Doch dann macht sie einen großen Fehler: sie lächelt und sagt stumm zu Atawima: „Ich wäre verloren ohne dich, große Göttin, verloren!“ Und schon verdüstert sich die Welt und schrumpft zu einer engen Dachshöhle, durch die sie kriechen muss. Sie bekommt keine Luft, vor ihr bricht der triefende Gang ein, sie ist eingesperrt, hört ein böses Knurren. Ich muss Sumil schützen, ich muss…sagt sie zu sich selbst, immer wieder, da bricht das kalte Erdreich über ihr zusammen, sie versucht zu schreien, sie ringt nach Luft, wacht schreiend auf. Friert.
„Was ist, Pippa?“ fragt Jakob neben ihr, „hattest du einen schlimmen Traum?“ Pippa nickt und wirft einen besorgten Bllick auf Sumil neben ihr. Die Kleine schläft trotz Regen, trotz Kälte, trotz Hunger. „Ich habe auch geträumt“, flüstert bibbernd Jakob, „ wir waren auf einer breiten Straße, die Sonne schien, alle waren guter Laune, den Pferden ging es richtig prächtig, und du hast dauernd nur gelacht!“ „Ach, hör auf, Jakob, du willst mich doch nur aufmuntern!“
„Nein, wirklich, ich hab sie ganz deutlich gesehen, die Straße. Die Steine glänzten in der Sonne!“ Da muss Pippa lachen. Und für einen Moment hat sie ihren eigenen schlimmen Traum vergessen. Übermüdet und weiter frierend fallen sie gleich wieder in den wenig erholsamen Schlaf, wo schon längst wieder ungeduldig die Unholde der Nacht auf sie wachen, die nichts lieber tun als erschrecken, verfolgen, beißen, fauchen, fluchen und hässlich lachen, dass es in den Ohren wehtut.
„Ich bin der böse Didalos, ich bin der böse Didalos!“ dröhnt es Pippa schmerzend durch den Kopf.