08 Apr.

Historischer Roman II YRRLANTH – Leseprobe

Blatt 200 – Pippas Traum – Atawima nimmt sie an ihre Hand.

Die Erschöpfung siegt schließlich über die müden und völlig durchnässten Männer, genauso wie über Pippa und Sumil. Aber es wird kein erholsamer Schlaf werden, der sie da empfängt. Das Zittern der Glieder fährt ihnen bis in ihre Träume, die von grässlichen Gruselwesen bevölkert sind und an ihnen zerren wie üble Quälgeister, giftige Schlangen und geflügelte Drachen. Pippa träumt.

„Hihihi, was glotzt du so?“ kichert Didalos, der Obertroll aus der uralten Buche, die vom Blitz gespalten ächzend dennoch weiter lebt, „ich werde dir helfen, dein lästiges Kind loszuwerden!“ Pippa schaut sich dabei selber zu, wie sie vor ihm fliehen will und zu schreien versucht: „Geh weg, geh weg, ich brauch dich nicht!“ aber nur ein elendes Röcheln zustande bekommt, über das dieser Didalos nur höhnend grinsen kann. Jetzt rutscht sie in dem schlammigen, stinkenden Boden ab, immer schneller, immer tiefer, sie verliert das Gleichgewicht, kann Sumil nicht festhalten, stürzt in einen düsteren Abgrund. Plötzlich ist sie geblendet, ein greller Lichtball rast auf sie zu, wird sie überrollen, wird sie…“Was weinst du denn, Pippa?“ träufelt ihr ganz weich und leise eine Stimme ins Ohr. Zuerst denkt sie, es ist ein Wassertropfen, dann weiß sie aber, es ist eine Stimme. Sie kennt diese Stimme. Sie fällt nicht mehr, sie fliegt, meint sie. Nach oben, nach unten, in die Nacht? „Ich will doch gar nicht weinen, ich will…“ stottert sie dagegen. „Ich kann nichts sehen, wo ist Sumil, wer bist du?“ Immer mehr Fragen überfallen sie. Die Wörter purzeln durcheinander, sie haben keinen Sinn mehr, sind nur nass und kalt und sprachlos auch. Wie das? Da weiß sie unvorhergesehen, was sie fragen muss: „Wie heißt du?“ Von weiten verfolgt sie immer noch das lärmende Gelächter des hässlichen Obertrolls, der mehrere Mäuler zu haben scheint, die alle grölend prusten und unverständliche Sätze ausspucken. „Das weißt du doch!“ kommt jetzt in einem einschläfernden Singsang die Antwort. Aus der hellen Lichtkugel tritt eine Gestalt, eine Frau, eine Göttin, Atawima. Da sprudelt es wie eine kleine, kühle Quelle aus ihr heraus:“Soju, toju, waltantaju…Atawima, steht uns bei!“ Und sie kennt jetzt auch die Stimme: es ist Somythalls Stimme, sie sagt ihr das alte Gebet vor, sie…da nimmt sie die Frau an die Hand, sie schwebt über dem Abgrund, ihr ist gar nicht schwindlig und Sumil ist ganz leicht in ihrem Arm. Doch dann macht sie einen großen Fehler: sie lächelt und sagt stumm zu Atawima: „Ich wäre verloren ohne dich, große Göttin, verloren!“ Und schon verdüstert sich die Welt und schrumpft zu einer engen Dachshöhle, durch die sie kriechen muss. Sie bekommt keine Luft, vor ihr bricht der triefende Gang ein, sie ist eingesperrt, hört ein böses Knurren. Ich muss Sumil schützen, ich muss…sagt sie zu sich selbst, immer wieder, da bricht das kalte Erdreich über ihr zusammen, sie versucht zu schreien, sie ringt nach Luft, wacht schreiend auf. Friert.

„Was ist, Pippa?“ fragt Jakob neben ihr, „hattest du einen schlimmen Traum?“ Pippa nickt und wirft einen besorgten Bllick auf Sumil neben ihr. Die Kleine schläft trotz Regen, trotz Kälte, trotz Hunger. „Ich habe auch geträumt“, flüstert bibbernd Jakob, „ wir waren auf einer breiten Straße, die Sonne schien, alle waren guter Laune, den Pferden ging es richtig prächtig, und du hast dauernd nur gelacht!“ „Ach, hör auf, Jakob, du willst mich doch nur aufmuntern!“

„Nein, wirklich, ich hab sie ganz deutlich gesehen, die Straße. Die Steine glänzten in der Sonne!“ Da muss Pippa lachen. Und für einen Moment hat sie ihren eigenen schlimmen Traum vergessen. Übermüdet und weiter frierend fallen sie gleich wieder in den wenig erholsamen Schlaf, wo schon längst wieder ungeduldig die Unholde der Nacht auf sie wachen, die nichts lieber tun als erschrecken, verfolgen, beißen, fauchen, fluchen und hässlich lachen, dass es in den Ohren wehtut.

„Ich bin der böse Didalos, ich bin der böse Didalos!“ dröhnt es Pippa schmerzend durch den Kopf.

06 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 183

Vom Gerücht zum Gericht. Europa, die starke Frau an der Spitze. (Teil I)

Wie ein Lauffeuer rennt das Gerücht durch den Hafen, hinauf zum Palast, dann über die ganze Insel. Und jeden Tag kommen neue Einzelheiten dazu: Der Rat der Alten habe in einer Sondersitzung den Anschlag beschlossen, Berberdus habe alle gezwungen, dem Attentat zuzustimmen, ohne Gegenstimmen sei es beschlossen worden, Zygmontis habe Pallnemvus überredet, ordentlich Bestechungsgelder zu zahlen, die Palastwachen seien mit ins Boot geholt worden, selbst die jungen Priesterinnen im Tempel der großen Göttin sollten umgarnt werden – als Spioninnen und Wasserträgerinnen. Und so weiter und so weiter.

Im Hafen surrte und brummte das Thema wie eine wilde Hornissenschar. Und oben, im Palast, ist es dann Gromdas, der seine eigenen Mitratsherren ans Messer liefert. Natürlich verspricht er sich davon so einiges bei Europa und ihren Söhnen.

„Wer will mich sprechen?“ fragt Europa ihren Oberwächter, Sodontis, „wer?“

„Gromdas, es sei sehr dringend!“ sagt in einer besonders tiefen Verneigung sehr leise, aber auch sehr deutlich, Sodontis darauf.

Europa nickt. „Schick ihn in den Thronsaal, ich werde ihn warten lassen.“

Gromdas, der ja allzu bekannt ist für seine Intrigen, ist fest entschlossen, alle ans Messer zu liefern, damit er davon kommt. Aber dass Europa ihn jetzt so lange warten lässt, ist kein gutes Zeichen, denkt er. Durchschaut sie ihn vielleicht sogar? Unruhig geht er in dem leeren Saal auf und ab, lauscht auf jedes Geräusch. Wo bleibt sie denn? Vielleicht will sie ihn festnehmen, vielleicht haben Pallnemvus oder Keltberias bereits gestanden, vielleicht…Da wird endlich die große Flügeltür geöffnet und da ist auch Europa, allein. Gut, denkt, Gromdas, gut, sie weiß also noch nichts. Doch da irrt er völlig. Europa hat längst von den Gerüchten gehört, auch hatte sie im Gespräch mit Chandaraissa ähnliche Überlegungen angestellt, nachdem sie die Falle vor der Höhle gesehen hatte.

Gromdas verbeugt sich möglichst gelassen, Europa geht langsam zum Thron, setzt sich, schaut ihm beim Verbeugen lange zu, um ihn dann aus seiner unbequemen Haltung zu erlösen:

„Nun, mein lieber Gromdas, du willst mich sprechen? Es sei dringend?“

Gromdas versucht aus ihrem Tonfall heraus zu hören, ob sie mit ihm spielt oder ob sie tatsächlich neugierig ist.

Nun steht er wieder aufrecht vor ihr. Er fährt innerlich heftig zusammen, denn so hat er Europa noch nie gesehen: Unnahbar, mit bohrendem Blick sitzt sie auf dem Thron, als wäre er in einem Verhör.

„Ich danke dir, Europa, dass du mir dein Ohr leihen willst. Ich muss dir eine unangenehme Botschaft mitteilen.“

Gromdas weiß, jetzt gibt es kein Zurück mehr. All seine innere Sicherheit, die er eben noch glaubte gehabt zu haben, ist wie weggeschmolzen. Pure Angst wächst in ihm wie ein Schlinggewächs, das ihm den Atem abwürgt.

„Nun, du bist der Bote, ich weiß sehr wohl zu unterscheiden.“

Was soll das denn heißen, fährt es Gromdas durch den Kopf. Steckt da schon eine Drohung drin? Eine sehr unangenehme Stille füllt plötzlich den Saal. Wortlos schauen die beiden sich an. Gromdas atmet tief durch, knetet langsam seine Finger, räuspert sich verlegen und lässt dann endlich die Katze aus dem Sack:

„Es war ein Anschlag, oben vor dem Höhleneingang, der im Rat geplant wurde, nachdem den Ratsherren von einem Fremden ein Tipp gegeben worden war.“

Europa ist sprachlos. Liefert Gromdas sich da gerade selbst ans Messer oder nur die anderen und wer war dieser Fremde, von dem er da spricht? Wenn es so ist, wie Gromdas gerade gesteht, wird das ein Beben auf der Insel auslösen, denn der gesamte Rat würde, wenn es wahr ist, abgesetzt werden, würde…Europa will es gar nicht zu Ende denken.

„Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage“, hört sich Gromdas zitternd sagen. Europa schweigt.

06 Apr.

Europa – Meditation Nr. 497

Europa, die weitsichtige.

Was für ein Beiwort: weitsichtig! Europa und weitsichtig? Wenn man das neue Buch von Joschka Fischer „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ liest, dann hat Europa das sich anbahnende Chaos (als wenn vorher Ordnung das Weltgeschehen bestimmt hätte!) gründlich und gerne verschlafen, weil es so angenehm war, sich vom großen Bruder beschützen zu lassen, dessen Lebensart man gleich in traumwandlerischer Selbstvergessenheit in eine pax Americana hoch jubelte. Von Weitsicht keine Spur! Es war sicher nicht unklug, sich als zerknirschter Verlierer dem scheinbar großherzigen Sieger unterwürfig anzudienen. Der konnte konziliant bald die Zügel lockern – mittels Persilscheine und üppigem Startkapital als Anschubhilfe. In den Geschichtsbüchern ist vom Marshall-Plan die Rede. Der eingefleischte autoritäre, patriarchalische Mitteleuropäer witterte im lockeren Gestus des Siegers eine ungeahnte Chance, die eigenen Eckdaten subkutan weiter bestehen zu lassen und oben drüber das Süßholz von der jungen Demokratie zu raspeln, um die eigenen Ungeheuerlichkeiten der verflossenen Jahre ordentlich zu kaschieren.

Wie ein Friedensfürst spielte sich der unwiderstehliche Dollarheld weltweit auf, als wäre er ein fairer Makler, ein beschwichtigender Polizist in lokalen Konflikten. Die Sprache lieferte die dazu gehörige Sahne, um die Gier nach Hegemonie und Bevormundung aussehen zu lassen, als wäre es Großzügigkeit und Großmut, die erfolgreich zu dominieren wüssten.

Schon der Beginn des demokratischen Modells in der Antike ist in der Überlieferung – selbstverständlich ausschließlich von Männern für Männer aufgeschrieben – Augenwischerei: Nur die Wohlhabenden Bürger hatten das Wahlrecht, Frauen, Fremde und Sklaven waren natürlich ausgeschlossen. Erfolgreiche Arbeitsteilung nennt man so etwas, aber Herrschaft des Volkes war es ganz bestimmt nicht – damals so wenig wie heute.

Die weitsichtige Europa! Hat sie denn wirklich vergessen, dass für ihren erzählerischen Anfang ein breit ausgewalzter Vergewaltigungsakt steht? Von Männern für Männern bildgewaltig aufgeschrieben! Gewalt ist also schon im Gründungsmythos Europas eingebrannt. Und die Demokratie, die in Athen und Sparta aus der Taufe gehoben wurde, war genau wie das Modell von 1787 ein Papier, das wortreich und begriffmächtig die Ungleichheit festschrieb, als wäre es die Charta für die Gleichheit und Freiheit aller Mitbürger. Aber sowohl nach innen wie nach außen gingen die Vertreter dieses Regierungssystems unerbittlich gegen Hinderer und Hindernisse vor. Damals wie heute.

Und die weitsichtige Europa zog es bis heute vor, das alles in einem langen Schlaf wegzuträumen. Und in leisen Selbstgesprächen schönzureden. Bis heute. Joschka Fischer, der in seinem Buch – ohne jeden Quellennachweis, ohne eine Bibliographie und fast ohne Zitate – noch einmal das große Lied der PAX Americana – vor allem vor dem Hintergrund der düsteren Wolken, die er heraufziehen sieht – singt und anpreist als hohes Gut, das es weiterzuerzählen gälte, scheint ähnlich wie die eigentlich doch weitsichtige Europa in einem Wachschlaf vor sich hin zu simmelieren.

Und nun scheint die verschlafene Europa gerade nicht von einem Prinzen wachgeküsst zu werden, sondern von einem veritablen Unhold. Zitternd schreckt sie hoch, reißt die Augen auf, die weitsichtigen, und scheint zu meinen: Falle ich gerade aus einem schönen Traum in einen bösen Albtraum?

Nein. Weder noch. Es ist an der Zeit, unverstellt nach vorne zu blicken, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen, mit siebenundzwanzig Helfern zur Seite, die lieben Verwandten. Sie alle müssen nun den wagemutigen Schritt in die Selbstständigkeit tun, die selbstverschuldete Unmündigkeit geht abrupt zu Ende, zum Glück. Denn das transatlantische Rumpelstilzchen ist gerade dabei, sich selbst zu zerreißen vor lauter Wut und Zorn auf eine Welt, die ihn einfach nicht als king of any deal anbeten will. Er macht es im Grunde der weitsichtigen Europa leicht, durchzublicken: Lug und Trug, Pokern und Zocken taugen nicht zum politischen Handeln.