07 Juli

Europa – Meditation # 457

Zwei völlig artfremde Überforderungen des Homo Sapiens sapiens (Teil 2)

Dass er nur ein Gast nicht nur in seinem Leben, sondern auch auf seinem wunderbaren Planeten ist, vergisst die Spezies allzu gern. Damit ihm das im Alltag auch nachhaltig gelingt, erfand und erfindet er sich immer wieder Gerätschaften, die ihm gerne Helfen, diesen Tatbestand des vita brevis zu vergessen: Das Rad, die Druckerpresse, den Fotoapparat, die Dampfmaschine, das Telefon, den Otto-Motor, das Radio, das Flugzeug, TV und schließlich KI. Vermehrung und Beschleunigung eben. Nicht Qualität, sondern Quantität wurde so exponentiell gesteigert, bis sich dem Zauberlehrling sein Zauberwerk verselbstständigte. „Hab ich doch das Wort vergessen, ach das Wort, worauf am Ende er das wird, was er gewesen…“ Und in der Ballade hat der Lehrling Glück. Denn der Meister beendet dass misslungene Gesellenstück mit seinem Basta: „In die Ecke Besen, Besen, sei’s gewesen!“ Tja, wenn es doch nur so einfach wäre!

So hat er sich selbst zum Zuschauer konditioniert, der er glaubt zu sein, während er in Wirklichkeit ein Räuber, Raffer und ein Vergifter geworden ist, der davon aber nichts wissen will. Das beste Beispiel hierfür ist nach wie vor die ungelöste Frage der sogenannten „Entsorgung“, die mit diesem Begriff in trockenen Tüchern gelandet zu sein scheint, aber in Wirklichkeit seit 70 Jahren größte Sorgen bereiten sollten.

So ist es auch mit dem open-air-Museum von Pompeji: Der Vulkanausbruch ist ja so lange her, dass alles, was damit zusammenhängt – auch die Katastrophe für die tausende getöteter Pompeianer – etwas für die Geschichts- und Geographiebücher zu sein scheint, nicht aber für die aktuelle Berichterstattung und Katastrophen-Vorsorge. Selbst das Menetekel der Ahrflutwelle scheint längst wieder vom Regen von der weißen Wand getilgt zu sein. Wenn aber in diesen Tagen nicht nur der Stromboli, sondern auch der Ätna und sogar die Phlegräischen Felder störend rumoren, rauchen und sich dreist erheben, haben solche besorgniserregenden Nachrichten angesichts der Fülle an sportlichen Events dieser Tage -EM, Olympia, Tour de France und Wimbledon – keine Chance nach vorne zu kommen (nicht zuletzt aufgrund der mathematischen Logik des Algorithmus, der nur nach oben spült, was oft genug angeklickt wird!) So schafft sich der Homo sapiens sapiens leichtfüßig die übelsten Fallgruben, die er als letzten Schrei und Fortschritt überschreibt.

Wie sehr aber nach wir vor – eigentlich schon immer – die Gefühle das Sagen haben und nicht der Verstand, könnte man sogar an den Reaktionen der Niederlagen der Deutschen, Schweizer und Türken ablesen, die mit einem derartigen Furor reagieren, dass verdrückte Tränen geradezu wie ein Lachen anmuten.

Gast zu sein in seinem eigenen Leben, das einem einfach so geschenkt wurde, schmeckt dem Narzissten natürlich gar nicht, und dass er weiter voll verantwortlich bleibt für Wohl und Wehe des von ihm leichtfertig geschundenen Planeten erst recht nicht – nur mit 100 km/h über Einbahnstraßen gleiten, fühlt sich für die meisten an wie ein Albtraumbild einer brutalen Operation im Bett des Prokrustes. Eine Kleinkind Trotzreaktion, mehr nicht, ist es in Wirklichkeit. Da zeigt sich, wie sehr eben Gefühle das Denken und Handeln des aufgeklärten Europäers nach wie vor dominieren. Kants Wendung von der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist weiter richtig und den Mut zur Selbst-Aufklärung hat der Homo Sapiens sapiens immer noch nicht. Das Zeitalter einer wirklichen A u f k l ä r u n g bleibt weiter Zukunftsmusik, denn das, was wir seit 300 Jahren erleben ist nichts anderes als Rauben, Raffen und Vergiften.

05 Juli

Europa – Meditation # 456

Zwei völlig artfremde Überforderungen des Homo Sapiens sapiens. (Teil 1)

Natürlich könnte man in Dauerschleife dieses sapiens, sapiens, sapiens („weise, weise, weise!“) zu einem beschwörenden Raunen jedem Haushalt frei Haus als Gott der Wiederholung einspeisen, damit er – Goebbels hatte es in den USA als Werbe-Axiom zu bewundern und zu kopieren gelernt – leichter daran glauben kann. Doch die Ergebnisse seiner Weisheiten – Fließbandproduktion und Überschall-Passagier-Flugzeuge blenden nur mit Menge oder mit Geschwindigkeit, nicht aber schuf er sich Sinnfülle damit, nach der er sich so sehnt.

Damit nun aber diese verfehlten Anstrengungen nicht als verfehlt betrachtet werden müssen, badet der homo sapiens sapiens nachhaltig in Unterhaltungsformaten, die ihm beim Selbstbetrug schön trösten sollen. Das tun sie auch nach Kräften. Bestes Beispiel: der derzeitige Sommer. EM, Olympia, Tour de France und Wimbledon dürfen sich Tag und Nacht ordentlich wichtig tun. Denn untröstlich könnte er gleichzeitig genauso werden. Beste Beispiele: Der Plastikmüll in den Meeren, die schmilzenden Gletscher, die riesige Schere im Portemonnaie der wenigen Gewinner (von Rheinmetall wollen wir lieber schweigen) und der allzu vielen Verlierer weltweit (das gestrige Wahlergebnis in Großbritannien könnte sicher gut als Beispiel dafür dienen), die zunehmende Abfolge von Überschwemmungen und Waldbränden. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Aber wie gesagt: Mengen und Geschwindigkeiten sind eher Pappkameraden als wirkliche Zuwächse an Lebensqualität. Doch wie vom Trampel aus Amerika wird auch hierzulande von verbindlicheren Schreihälsen die frohe Botschaft verkündet: alles nicht so schlimm und schuld sind sowie so die „Grünen“. Beinahe wären den Besserwissern doch glatt das Feindbild abhanden gekommen, nachdem das kommunistische Konzept krachend baden gegangen war. Aber die „Grünen“ genügen ihnen als Platzhalter des Bösen.

Gleichzeitig haben kriegerische Gewalt und männliche Übergriffigkeit, um es einmal euphemistisch zu umschreiben, nichts von ihrer uralten Gefühlskälte verloren. Dass dann auch noch spitzfindige Paragraphenhengste Priester aus dem Rennen nehmen können, sie sind ja wie alle Arbeitnehmer nur von morgens sieben bis abends fünf im Job(!), lässt sicher viele Täter klammheimlich bösartig grinsen. Die Triebe lassen sich einfach nicht unter Kontrolle bringen, da ist es nur günstig, weiter im Patriarchat vor sich hin zu dümpeln, drüber eine zuckrige Lasur von zivilisatorischer Wohlanständigkeit gelegt. Allein schon das allmähliche Verschwinden jedweder Verbindlichkeit im öffentlichen Raum macht dagegen allzu deutlich klar, dass die soziale Seite des homo sapiens sapiens mehr und mehr zu einer bloßen Plakatwand schrumpft – als wären wir alle auf einem launigen Segeltörn à la Truman Show; es dauert nicht mehr lange, bis wir gegen die Wand knallen und unliebsam aus unserem frustrierenden Konsumschlaf erwachen.

Sinnvoller wäre es allemal aber, schon jetzt die großen Mengen an Gütern und die Beschleunigungseuphorien wie von gestern aussehen zu lassen. Denn für morgen wird eh nur noch die kleine Menge und das Fahrrad – ohne Elektromotor natürlich – eine Perspektive des globalen Überlebens sein. Und dass der „Rufer in der Wüste“ natürlich ausgelacht wird, versteht sich von selbst. Leider hört sich dieses Lachen aber nur wie ein grässliches Krächzen an, das von der eigenen Ratlosigkeit mit viel Lärm ablenken soll, denn der homo sapiens sapiens ist mit seinen bisherigen Mustern – amazonisch-globale Sofortmengen im Höchstbeschleunigungsformat – am Ende mit seinem Latein.

28 Juni

Europa – Meditation # 455

Die Quadratur des Kreises: Gefühle in Worte fassen.

Wenn es eng wird beim politischen Palaver, neigen Sprecher wie Zuhörer dazu, von den Inhalten auf die Form auszuweichen. Neues Beispiel: Die TV-Debatte zwischen Biden und Trump. Denn die inhaltlichen Punkte, die Biden ansprach, hätten längst ausgereicht, den Kontrahenten noch älter aussehen zu lassen, als er ist, weil dessen Lügen, Prozesse und Schmieraffären eines Präsidentschaftskandidaten einfach nicht würdig sind. Doch die Aussetzer, Pausen, Abbrüche und Versprecher des ehrenwerten anderen Kandidaten überlagerten massiv die Inhalte, die er sachlich vorzutragen versuchte; so konnten die Gegner schmunzelnd der Selbstdemontage Bidens beiwohnen, ohne die Untiefen des eigenen Kandidaten entlarvt zu sehen. Wie praktisch, denn wie beim Fieberthermometer wurden sofort die Zahlen für Trump in die Höhe getrieben, denn die Zahlen haben außer ihrem Zahlenwert keinen weiteren. Der Hintergrund dieser Fieberkurve allerdings müsste jedem halbwegs klar denkenden Bürger eine massiv abwärts gerichtete Kurve präsentieren. Tut sie aber nicht. Denn es sind die Gefühle, die in jedem Duell gewinnen, nicht die kühlen Argumente.

Nehmen wir erst einmal zwei Gefühlsmeere Europas: Die mit dem Rhein mittendrin und die mit der Loire. Wie verwandt doch die Gefühlswelten, bzw. Untiefen in beiden trüben Gewässern sind: beide wabern in einem selbstmitleidigen Wutfuror gegen die da oben, gegen die sogenannten besseren Kreisen, die ihre Uneinsichtigkeit mit Bildung zukleistern, gegen die Geldfüchse, gegen die Politi-Profis, die in Dauerschleife den Satz „dafür brauche man eben Expertise“ absondern, um sich unliebsamen Fragen scheinbar elegant zu entziehen, und natürlich gegen die big player der Börse wie der Schwerindustrie. Und um denen ein Ende zu bereiten, sollen ruhig mal die bis dahin als nicht regierungsfähig verteufelten Rechten nach dem Rechten sehen. Schlimmer kann es sowie so nicht kommen, sagen die frustrierten, abgehängten Bürger in der Lausitz genauso wie in den Hauts-de-France. Sie fühlen sich sowas von abgehängt und nicht mehr wertgeschätzt, so gedemüdigt und abgefertigt, dass sie sich nun wie auf dem Rücken einer Tsunami-Welle fühlen, die es endlich denen, die kein Interesse an ihren Sorgen haben, zeigen wird.

Aber auch diejenigen, die im letzten Jahrhundert von Europa nach Übersee ausgewandert waren, scheinen in verwandtem Fahrwasser zu dümpeln: Nicht nur im sogenannten Iron-Belt, nein, auch im gesamten mittleren Westen, aber auch in den Bergen und an den Küsten, überall sollen sie sich in ihre demolierten Wohnmobile verkriechen, sie sind ja selbst schuld – so das Mantra der amerikanischen Selbst-Erlösungserzählungen – und nun haben sie ja endlich einen beinharten Fürsprecher, der kein Blatt vor den Mund nimmt, das Blaue vom Himmel verspricht und der einzige ist, der sich um ihre Interessen kümmern will. Dafür spielt er elegant auf der Klaviatur der leeren Versprechungen, der probaten Feindbilder und der Halbwahrheiten, bzw. hohlen Behauptungen, die jeden Gegner ziemlich alt aussehen lassen. So kann man dann ordentlich den Lukas hauen, bis denen in Washington endlich die Luft ausgeht und der Richtige ans Ruder kommt. Dazu werden sie voller Inbrunst ihre Stimme abgeben, eine Gefühlsorgie sondergleichen – ganz ähnlich der in Europa – , die alles andere mit dem Wahltag wegwischen wird. Halleluja! Hier kommt nämlich auch noch ein religiöses Moment hinzu, das dem Gefühlsbeben zusätzlich einen doppelten Boden beschert.

Und die traditionellen Medien schauen mit ihrer rationalen Schreibe diesem Treiben zu, ohne sich klar zu machen, dass die eigentlichen Adressaten längst eine eigene Rationalität zelebrieren, die nur so von einem Feuerwerk von Glaubenssätzen für die politischen Bühne blinken, dass nicht mal mehr ein Joint nötig scheint, um sich sicher zu sein, dass man endlich auf dem richtigen Dampfer angeheuert hat.