10 Dez.

Europa – Meditation Nr. 475

Der Gott ohne Kleider – die Wissenschaft

Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Kein Problem. Aber. Wenn der Verstand dann stante pede in den Dienst der neuen Religion gestellt wird, deren Markenzeichen es ist, nicht mehr als Religion, sondern als das Ende derselben zu firmieren, dann ist Nebelkerzen Werfen die wichtigste Disziplin, gleich hinter wort- und zahlenreichem Überwältigungsgebaren.

Anfangs funktionierte es geradezu überwältigend. Die Metapher des Lichts wurde bemüht: endlich windet sich der homo sapiens sapiens aus seiner Höhle (das platonische Höhlengleichnis läßt freundlichst grüßen!), sieht das Sonnenlicht als Wegweiser aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und begibt sich – trunken vor Glück – gleich in die nächste Denkfalle: er umstellt sich dermaßen radikal mit Zahlen und Skalen, dass er schließlich glaubt, göttergleich alles auf 0/1 reduzieren zu können. Natürlich mit ordentlich viel Stromenergie, um die nimmersatten Rechenmaschinen Tag und Nacht auf Trapp zu halten. Jetzt laufen ihm die Zahlenreihen doch glatt in Echtzeit davon. Es ist fast wie in Goethes Ballade vom Zauberlehrling; „Ach, ich merk es! Wehe, wehe! Hab ich doch das Wort vergessen, ach das Wort, worauf am Ende er das wird, was er gewesen“.

Doch was tut der moderne Zauberlehrling? Er besäuft sich mit Pixelpunkten, vergisst Zeit und Raum, seine täglichen Gewohnheiten, selbst auf die Toilette geht er nicht mehr, von Schlafen keine Rede sowie so.

Dass dabei kein gutes Lebensgefühl zutage treten kann, ist doch sonnenklar. Und dass mehr und mehr nun gegen „die Wissenschaft und ihre -schaftler“ gewettert wird, ist doch auch nicht so unverständlich.

Die Wissenschaft will immer Beweise, Zahlenbeweise, Additionen, die ohne Rest bleiben; das nennt sie dann „die Wahrheit“ – weil man sie nach-rechnen kann, überprüfen, transparent in Zahlengebäuden darstellen kann. Wahrheit.

Und dem begegnen nun die mit den Magenschmerzen mit der Gegenthese: „Lüge, nichts als Lüge!“

Die Wut, die dem zugrunde liegt, ist das Ohnmachtsgefühl, weil man mit Zahlen ja nicht diskutieren kann. Sie tun so, als seien sie jenseits des Gesprächs. Doch dabei ist es genau genommen umgekehrt: Denn erst im Gespräch – entweder im Selbstgespräch im Kopf des Nachdenkenden oder im offenen Disput auf offener Bühne coram publico – werden die Zahlengötter eingebettet in menschliches Handeln, bekommen so Bedeutung, werden so erst wirklich – vorher nichts als Abstraktion: von der Wirklichkeit abgezogen, also jenseits von ihr.

So gesehen wird dann der Genauigkeitswahn, der sich als Hüter der Wahrheit geriert, der das Ende der Unwissenheit und Unmündigkeit eingeläutet habe, zum bloßen Herrschaftsinstrument über die, die nicht so gut und so schnell mit Zahlen umgehen können. Nichts als Machtspiele, die Waffen sind die Zahlenskalen – an der Börse genauso wie in jeder Bank. Abgefedert wird dieses neue Religionsgefüge mit Hilfe einer eigenen Sprache, die von „Tilgung“ über „Dispo“ bis „Bilanz“ alles eintütet und so unter Kontrolle hat. Die Zahlen haben das Tun der Menschen unter Kontrolle und die Menschen, die die Zahlen kontrollieren, kontrollieren so auch die Menschen. Und wenn die dann von Lügen sprechen, haben die Zahlenhengste nichts als ein mitleidiges Lächeln für die Schreihälse: das ist das Geschrei von Losern, mehr nicht.

Wer aber einen Augenblick inne hält, nach – denkt und die letzten 500 Jahre Revue passieren lässt, der wird ohne große Mühe zu dem Ergebnis kommen können, dass nach dem Ende der Herrschaft der Religionen die Herrschaft der Zahlen nahtlos folgte.

Auch das globale Wiedererstarken der Religionen ist nichts anderes als die gleiche Münze nur wieder umzudrehen – aus dem Regen in die Traufe und zurück. Es wäre sicher besser, die jetzt so laut Wissenschaftler als Lügner bezeichnen, ins Gespräch zu verwickeln über das, was am Lügenargument brauchbar ist und was man gemeinsam stattdessen als species zur Überwindung der „neuen Religion“ tun könnte. Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!

09 Dez.

Europa – Meditation Nr. 474

Der alte Mann am Bosporus und die Arbeit am eigenen Mythos

„Hoffnung auf Neubeginn in Syrien“ lautet die Titelseiten-Überschrift beim GA heute. Ist das eine Frage oder eine Feststellung oder bloß ein Aufhänger? Als wenn über Nacht stabile Seilschaften und gefüllte Waffenlager sich plötzlich in Luft auflösten!

Hier noch einmal die unvollständige Liste der Akteure im arg geschundenen Syrien:

1. Der ISIS und seine Ableger

2. Die Kurden

3. Die Türkei

4. Russland

5. USA

6. Israel

7. Die Rebellen

Und derzeit im Unterstand die Hisbollah und der Iran. Abwarten, dann Gelegenheiten nutzen.

Der Kanzler der BRD geht noch am Abend der Flucht von Assad nach Moskau ans Mikrofon und fordert mit strenger Miene Anerkennung der verschiedenen Religions- und Volksgruppen, Rechtssicherheit für die Bürger und freie Wahlen. In welchem Traumland lebt der denn? Natürlich spricht er dem „social-media“-Zaungast aus dem Herzen, der ja weiter im Wohlstands-Dienstleistungsanspruchs-Muff vor sich hin besserwissert und seine „likes“ verteilt: Dann können ja gleich die Millionen syrischer Flüchtlinge zurückreisen in ihr malträtiertes Land und beim Wiederauf-

bau helfen.

In welchem Wolkenkuckucksheim leben die denn gerade?

Die konfuse Gemengelage wird jeder der Akteure – hinter dem Vorhang des euphorischen Neubeginn-Jubels – für seine langfristigen Ziele nutzen. Die Autonomie Syriens bleibt selbstverständlich eine Fata Morgana.

1. Wir haben den langen Atem, wir werden von unserem Gott geführt, wir werden siegen. Also, auf ein Neues: Die Angst der anderen ist unsere Chance. Wir sind völlig furchtlos und voller Zuversicht – in the lang term.

2. Die Kurden im Nordosten Syriens wittern natürlich ihre Chance für mehr Autonomie und kulturelle Eigenständigkeit: Kurdistan light vielleicht?

3.Der alte Mann am Bosporus träumt jede Nacht von einer Groß-Türkei – deshalb müssen alle kurdischen Verselbständigungen – im eigenen wie im angrenzenden Land – massivst weiter geknebelt und unterdrückt werden. Immer schön hinter dem Mäntelchen „regionaler Schutzpatron der Unterdrückten und Verfolgten“ zu sein! Jetzt bietet sich dem Greis das Momentum zum Zupacken. Er wird es nutzen. Und die EU wird sich peinlich berührt nach Südamerika abwenden und lieber über Mercosur palavern. Kaufleute-Motto: Wir kümmern uns um die Geschäfte, den Rahmen mit seinen immensen militärischen Kosten überlassen wir lieber den ganz großen Playern, in deren Windschatten lässt sich gut Warenverkehr organisieren.

4. Die Militärbasen der Russen sollen auf gar keinen Fall – wie die der Amerikaner in Afghanistan – über Nacht evakuiert werden! Im Gegenteil: Sie werden sich den Rebellen andienen bei der Stabilisierung der inneren Verhältnisse – dass man bis gestern Assad am Leben hielt, ist einfach Schnee von gestern. Man muss nur die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wissen.

5. Wenn jetzt US-Bomber ISIS-Stützpunkte bombardieren, wird doch allzu deutlich, dass beide Seite weiter kräftig mitmischen wollen. Syrien ist einfach strategisch – zwischen Europa und Asien – weiter ein unverzichtbarer Angelpunkt für militärische und ökonomische Ansprüche.

6. Nie wieder werden wir die Lämmer sein, nie wieder. Im Gegenteil: wir werden das Vakuum in Syrien nutzen, unsere eigenen Ziele an unseren eigenen Grenzen systematisch weiter zu verfolgen.

7. Wir die Rebellen läuten nun ein neues Zeitalter von Frieden und Wohlstand ein…

02 Dez.

Europa – Meditation Nr. 473

Herrschaft des Volkes – eine lahme Ente?

Vor dem Bildschirm lässt sich gut unken. Lässt sich gut Kopf schütteln, lässt sich gut besser wissen. So auch gestern Abend wieder, als sich ein Mann vor einer nicht locker lassenden Frau aus der Schlinge zu winden versuchte.

1. Versuch: Tempo- und wortreich im Fachjargon der Zahlenjongleure möglichst eine Nebelkerze nach der anderen werfen. „Wo ist der Nebel, bitte schön, wo ist der Nebel?“ Wie ein sehr blasses Abbild eines Pontius Pilatus, der mit Poker-face und Ausgewogenheitsjonglage seine Hände wieder und wieder in Unschuld wäscht. Schuld sind selbstverständlich sowie so die anderen.

2. Versuch: Wenn die Sach-Kompetenz nicht die gewünschte Wirkung herbeizureden weiß, dann eben die Empörungsvariante, die Emotions-Klimax: „Was glauben Sie denn, wie ich mich gefühlt habe, von so vielen missgünstigen Journalisten öffentlich wieder und wieder vorgeführt zu werden?

Aber dem Zuschauer wollen einfach keine Tränen kommen. Zu durchschaubar ist das schmallippige Theaterstückchen, das da vorgeführt wird, zu offensichtlich der litaneien-bieder vorgeführte „Sprech“.

3. Versuch: Dann treten auch noch zwei ebenbürtige Fachleute auf: ein ruhiger und versierter Mann und eine ebenso sachkundige Frau, die den liberalen Vorkämpfer mit den eigenen Waffen leicht zu schlagen wissen, so dass am Ende nur eines klar zu sein scheint:

Es hilft wahrlich nicht, mit Angstmache in der wirtschaftlichen Krise den Bürger, der seine Herrschaft per Wahl ausüben muss, in die Enge zu treiben oder Sand in die Augen zu streuen – von Nebelkerzen ganz zu schweigen (ist das vielleicht auch die Ursache dafür, warum diese kleine Partei als Erkennungsfarbe das G E L B favorisiert?) So jedenfalls – nach solch einem wortreichen Ausweichgebaren – sieht der Wähler als Bürger erst einmal tief r o t !

Und nach angemessener Bedenkzeit wird er sicher zu dem Schluss kommen können:

Nicht nur das Gelb hilft in der Sache nicht weiter, nein, auch die Partei, die damit wirbt. Was dieses bisher so solide und vorbildliche Land braucht – nachdem es mit Hilfe neo-liberaler Versprechungen (ein unseliger Import aus Übersee) krank geschrumpft wurde – , ist eine Regierung, die aufhört mit Hilfe von Schuldzuweisungen den status quo zu verwalten, sondern stattdessen eine rigorose Aufbruchsstimmung propagiert, weil das Zeitalter des egoistischen Konsums, der anmaßenden Dienstleistungsansprüche, der fossilen Ausbeutung zu Ende gegangen ist und alle Lust auf ein neues Zeitalter verbreiten helfen, damit

– marode Infrastrukturen – Brücken, Schwimmbäder, Schulen, Kindergärten – erneuert und europäische Standards vereinbart werden;

– die Verdrossenheit den gewählten Vertretern gegenüber begraben und mehr auf regionalen Ebenen Verantwortung transparenter zugewiesen wird – als selbstverständliches Rotationsmuster;

– der Staat mutig Geld in die Hand nimmt, um es der öffentlichen Hand, aber auch großen und kleinen Unternehmen zu ermöglichen, mit billigem Geld in eine neue Zukunft zu investieren, die gerne die individuelle Mobilität in den Ballungszentren hinter sich lässt und völlig neue Netzwerke der Bewegungen von A nach B erfindet.

– der schier unvorstellbare Geldberg in den Händen wenigen kompromisslos vergesellschaftet wird, um keinen Tag länger die überlebensnotwendigen Umweltstandards europaweit zu verwirklichen.

Gelb wird dann nur noch der plastikfreie Uferbereich der Meere sein; und natürlich safranfeine Gerichte, nicht für lahme Enten, sondern für optimistische Menschen, die es nicht nötig haben, sich gegenseitig mit Nebelkerzen die Sicht zu verstellen.