10 März

Autobiographische Blätter (Leseprobe)

„…Jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen.“ (Sting)

Wenn ich versuche, mich in den kleinen, schüchternen Jungen hineinzuversetzen, kommt da außer den nachgetragenen Angeboten aus dem Jetzt kaum etwas an die Oberfläche. Also eher reines Wunschdenken oder wilde Wut, je nach dem.

Also erzähl mir keine Geschichten!

Er sitzt unter den beiden Kirschbäumen (sind das die, in denen seine Eltern am 20. Juli 1944 gerade Kirschen pflückten, als dieser Junge angerannt kam und rief: „Frau Sylsem, Frau Sylsem, der Hitler ist tot!“?), vor seinem Wigwam im Schneidersitz und starrt vor sich hin. Er will wohl Eindruck schinden. Aber keiner sieht ihn in dieser imposanten Kleinkindpose. Die Augenbrauen herunter gezogen, die Augen zornig blau, die Lippen geschürzt, die kleinen Hände auf den Knien. Nur die Amsel scheint ihn wahrzunehmen und singt unverdrossen ihre wunderbaren Melodien dazu. Staubkörner glitzern in den warmen Sonnenstrahlen, die Kornfelder um ihr Wohnhaus herum duften schwer und gelb und die beiden hohen Pappeln stehen stumm da, wie gelangweilte Wachsoldaten. Und die große Trauerweide am Eingangstor gibt auch keinen Ton von sich. Ihr Stummsein ist um vieles prächtiger als das des ängstlichen Knaben, der ich bin. Ich bin mir noch gar nicht begegnet bisher. Und es wird noch sehr lange dauern, bis sich das ändern wird. Jetzt aber interessiert ihn die nutzlose, vergeudete Zeit nicht. Bleiern legt sie sich über meine Sinne, ich komme mir vor wie in einem viel zu großen und schweren Taucheranzug. Nur den eigenen Atem höre ich, doch was draußen lärmt, dringt nicht zu mir und der neugierige Blick durch das Bullauge des massiven Metallkopfes verzerrt zusätzlich all das, was ich gelangweilt wahrnehme.

„Franzel! Essen ist fertig!“ Die sonore Stimme meiner Mutter holt mich aus meinem bedeutungsschweren Simmelieren. Wortkarg der Vater, bemüht die Mutter, still das Kind, das ich bin. So sitzen sie am Mittagstisch. Punkt zwölf kommt der Vater über die Straße von der Fabrik und will die heiße Suppe auf dem Tisch dampfen sehen. Wie immer zaubert seine Frau, meine Mutter, ein köstliches Mahl für uns herbei. Und hinterher – ihr Mann ist wieder im Büro, ihr kleiner Sohn verschwindet lautlos in seinem Dachzimmer, die Schwester in ihrem weißen Mädchenzimmer mit eigenem Balkon – verschwindet alles in der Küche wie von Zauberhand. Manchmal höre ich sie dabei summen oder sogar singen. Sie hat eine warme, volle Stimme. Die kenne ich ja nun schon seit meiner Zeit in ihrer Gebärmutter. Auch die klassischen Musikstücke, die sie sonntags zum Frühstück auflegt – immer wieder Beethovens „Pastorale“ oder der Gefangenenchor aus Nabucco – lagern wie alte Erdschichten in mir. Oft werden mich später unvermittelt Gefühlswallungen überfallen, wenn ich bestimmte Melodien höre oder üppigen Gesang. Tränen melden sich als Begleitmusik ungefragt dazu. Der Ton eines Cellos ist besonders überwältigend. Peinlich. Im Vertuschen bin ich ziemlich erfolgreich. Es scheint – von heute her gesehen – als hätte ich all meine Sinne knallhart darin trainiert, alle Eindrücke abzuwimmeln, nicht wahrzunehmen und mein Gedächtnis auf Durchzug zu stellen. Keiner soll mitbekommen, was mich bewegt, keiner.

Wenn ich dann im Keller meine Märklin-Eisenbahn fahren lassen – das metallene Sausen dabei hat etwas Beglückendes für mich, das ich natürlich nach außen auf gar keinen Fall zeigen will – komme ich mir wohl auch für einen Augenblick stark und wichtig vor, denn die Lokomotive macht genau nur das, was ich ihr erlaube. Als wäre ich in einer Höhle, tief unter der Erde, und die kleinen Lämpchen der Lok grinsen mich an, als wären wir Kumpanen oder Verschwörer in einer unentdeckten Zauberwelt. Dann meldet sich wieder ungefragt Frau Langeweile. Irgendetwas zieht ihn in seinem Bauch nach unten. Kurz vor der Übelkeit. Da hilft nur, mit dem Rad los zu fahren und einfach im Viertel auf dem Stallberg meine Runden zu drehen, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ich gerade unterwegs in wichtiger Mission, wo außer Flucht vor mir selbst sonst rein gar nichts ansteht. Nur ja niemanden dabei anschauen! Ich strenge mich ordentlich an, einen wichtigen Gesichtsausdruck abzuliefern, als wüsste ich genau, warum ich hier trampelnd Zeit in den Boden stampfe.

02 März

Europa – Meditation Nr. 491

Dreimal kommt das Rumpelstilzchen, dreimal!

Wenn Väter für ihre Töchter sorgen – wie zum Beispiel im Märchen – dann geht das fast immer zu Lasten der Frau. Auch der Prinz sieht die Fremde nur als Vermögenszuwachs und das kleine Rumpelstilzchen will dann den Deckel drauf machen. Dreimal wird gestundet, doch beim dritten Mal läuft das Glücksspiel aus dem Ruder und in seinem wilden Zorn, zerfetzt es sich selbst.

Als Märchen wollen wir es vielleicht gerade noch so durch gehen lassen, aber „on reality“? Die Tochter wird vom Zufall gerettet. Das ist einfach zu riskant. Da hätte schon der Vater für seine Tochter mehr Liebe und weniger Habgier mobilisieren müssen. Hat er aber nicht. Genau wie der Prinz.

Wenn nun aber zum Schluss das Rumpelstilzchen nicht mehr im Märchen auftaucht, sondern in der Realität, dann sollten wir erst recht aufpassen: Einmal ist schon der „DEAL“ , den er mit der Verzweifelten macht, kein deal, sondern nur gestundete Zeit, und zweitens würde er sich sowie so nicht an die eigenen Versprechen halten. Wär er ja schön blöd.

Wir können ganz sicher sein, dass er seine Verabredungen nur so lange einhalten wird, wie sie für ihn von Vorteil sein werden. Sonst ändert er sie einfach ab, oder behauptet, der Vertragspartner habe alles völlig falsch verstanden, oder er kann sich nicht mehr erinnern. Außer seine eigenen Spielregeln akzeptiert er gar nichts. Man kann also nur verlieren, wenn man wirklich meint glauben zu können, einen Vertragspartner vor sich zu haben. Das kann innerhalb von Sekunden kippen. Jede Laune ist ihm da recht, um sich nicht an irgendetwas gebunden fühlen zu müssen.

Ein schlichtes Gemüt, das ist er, das vor lauter Unsicherheit, Angst und Minderwertigkeitsgefühlen in jedem Augenblick seine Nebelkerzen werfen wird – es sei denn, wir erklären sein Spiel für beendet und gehen getrennte Wege.

Einmal rasselt er mit dem Schwert, einmal demütigt er den eigenen Gast, und einmal wird er noch einen drauf legen, um Eindruck zu schinden und um zu bekommen, was er will. So schlicht, so ausrechenbar.

Hören wir also auf, ihn ernst zu nehmen, verblüffen wir ihn einfach mit seiner eigenen fehlenden Verbindlichkeit.

Kommen wir doch noch einmal auf das ihm absolut gegen den Strich gehende Thema: Gleichberechtigung der Frauen.

Warum solidarisieren sich nicht einfach alle Frauen – schließlich sind sie längst in der Mehrheit – und kündigen – wie in Aristophanes’ Lysistrata – dem Papiertiger und seinem Zappelanhang, die hinter ihm her trottende Elefantenherde von Parteimitgliedern, nicht nur die Gefolgschaft, sondern auch das Betreten des Schlafzimmers. Das wäre sicher ganz auf seinem Niveau, nur nicht in den Zielvorstellungen akzeptabel.

Vielleicht wird er sich dann vor lauter Zorn vor laufenden Kameras selbst in Stücke reißen, um allen zu zeigen, dass er auch zum Äußersten bereit ist, dieser Dünnbrettbohrerrumpeltumpelpumpelseifenblaseneitelfatzke.

25 Feb.

Europa – Meditation Nr. 490

Das viele Blau sollte uns zu denken geben, endlich!

Hohe Wahlbeteiligung, klare Koalitionsvariante, abgestrafte Ampel. Und zwei sind weg…! Sieht so aus, als könnten „wir“ zufrieden sein mit diesem Ergebnis – doch angesichts der Situation in der Ukraine und den neu zu würfelnden Konstellationen in Sachen einer weiter regelbasierten multilateralen Welt hecheln die Europäer – aufgeregt wie aufgescheuchte Hühner – von einer Gesprächsrunde zur nächsten und beschwören Solidarität und Gemeinsamkeit: Die Amis sollen sich mal ganz schön wundern, der kleine Erdteil Europa kann auch „selber machen“, wenn es sein muss!

Wäre da nicht die blaue Welle, die gleichzeitig (84% Wahlbeteiligung) über den Osten rollt. Daran aber verschwendet kaum einer einen ernst zu nehmenden Beitrag. Doch die alten Wunden wollen einfach so nicht heilen. Die Menschen in den neuen Bundesländern können nicht mit Waren und Autobahnen gekauft werden. Weder gestern, noch heute, noch morgen. Sie sind bis ins Mark weiter gekränkt, abgehängt, geduldete am Katzentisch. „Ich kann es nicht mehr hören“ ist dazu der chorus mysticus der Besserwisser und Alleskönner aus dem Westen. Das aber verschlimmbessert es nur noch.

Denn von Anfang an war es eine bequeme Lüge, der „Westen“ sei der Retter und die „drüben“ sollen froh sein, dass sie gerettet wurden. Was für ein wohlfeiles Ammenmärchen ist das denn? Und nun haben „Wir“ ja wirklich wichtigere Probleme als olle Kamellen wieder auszulutschen, wirklich – oder? Die Arroganz, die dahinter hämisch grinst, ist ohnegleichen. Und die Retourkutsche ist der Wahlzettel mit dem Kreuz im blauen Feld. Beide derzeitigen Positionen sollten beiden Seiten peinlich sein und sie sollten möglichst bald endlich in die Phase der g e m e in s a m e n Überwindung einbiegen. Und zwar auf Augenhöhe.

Denn: Das Materielle war noch nie der letztlich entscheidende Faktor im Selbstbild eines Volkes. Immer sind es die gemeinsamen Geschichten, die gemeinsamen Bilder, die gemeinsamen Schicksale. Wenn allerdings der designierte neue Kanzler das in die Hand nähme, wäre es höchst wahrscheinlich gleich ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen: zu sehr würde er von oben herab, zu sehr konziliant, zu sehr in Siegerpose auftreten, als dass ihm irgendjemand aus den neuen Bundesländern abnähme, es ernst zu meinen mit dem notwendigen Eingeständnis, dass der Vereinigungsprozess von Anfang an in eine Sackgasse münden musste, weil die smarten Wessis sich und denen einzureden nicht müde wurden, es werde alles gut, wenn man nur die „Profis“ machen lasse und den Rest mit Infrastruktur zubetoniert. Den Rest würde die Zeit erledigen.

Nein, so läuft das nicht – auch nach 35 Jahren nicht! Denn gerade die immer älter werdenden Menschen in Blauzonesien, die nun auch vermehrt auf Hilfe angewiesen sein werden, werden sich in ihren Kränkungen einigeln und immer widerborstiger der Ärgerriese sein wollen, als ob man so etwas so ändern könnte. Denn diejenigen, vor deren Karren sie sich jetzt da trotzig spannen lassen, benutzen sie nämlich ironischerweise ebenfalls nur als Stimmvieh und nicht als Bürger mit ernst zu nehmenden Sorgen und einem ramponierten Selbstwertgefühl.

Auf der anderen Seite ist es in diesen kriseligen Zeiten unerlässlich, dass wieder ein möglichst ungeteiltes Wir-Gefühl endlich zustande kommt, damit solidarisch die inneren wie äußeren Gegner in Schach gehalten werden können und die nationalen wie europäischen Probleme gemeinsam bearbeitet werden können. Von den globalen Problemen ganz zu schweigen.

Es muss aber ein zentrales Projekt der kommenden Regierung sein, im Bündnis mit den Bundesländern, denn sonst wird noch aus dem jetzigen Blauzonesien ein schwarzblauer Mitteleuropa – Brei werden – 2029 !