Europa – Meditation Nr. 475
Der Gott ohne Kleider – die Wissenschaft
Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Kein Problem. Aber. Wenn der Verstand dann stante pede in den Dienst der neuen Religion gestellt wird, deren Markenzeichen es ist, nicht mehr als Religion, sondern als das Ende derselben zu firmieren, dann ist Nebelkerzen Werfen die wichtigste Disziplin, gleich hinter wort- und zahlenreichem Überwältigungsgebaren.
Anfangs funktionierte es geradezu überwältigend. Die Metapher des Lichts wurde bemüht: endlich windet sich der homo sapiens sapiens aus seiner Höhle (das platonische Höhlengleichnis läßt freundlichst grüßen!), sieht das Sonnenlicht als Wegweiser aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und begibt sich – trunken vor Glück – gleich in die nächste Denkfalle: er umstellt sich dermaßen radikal mit Zahlen und Skalen, dass er schließlich glaubt, göttergleich alles auf 0/1 reduzieren zu können. Natürlich mit ordentlich viel Stromenergie, um die nimmersatten Rechenmaschinen Tag und Nacht auf Trapp zu halten. Jetzt laufen ihm die Zahlenreihen doch glatt in Echtzeit davon. Es ist fast wie in Goethes Ballade vom Zauberlehrling; „Ach, ich merk es! Wehe, wehe! Hab ich doch das Wort vergessen, ach das Wort, worauf am Ende er das wird, was er gewesen“.
Doch was tut der moderne Zauberlehrling? Er besäuft sich mit Pixelpunkten, vergisst Zeit und Raum, seine täglichen Gewohnheiten, selbst auf die Toilette geht er nicht mehr, von Schlafen keine Rede sowie so.
Dass dabei kein gutes Lebensgefühl zutage treten kann, ist doch sonnenklar. Und dass mehr und mehr nun gegen „die Wissenschaft und ihre -schaftler“ gewettert wird, ist doch auch nicht so unverständlich.
Die Wissenschaft will immer Beweise, Zahlenbeweise, Additionen, die ohne Rest bleiben; das nennt sie dann „die Wahrheit“ – weil man sie nach-rechnen kann, überprüfen, transparent in Zahlengebäuden darstellen kann. Wahrheit.
Und dem begegnen nun die mit den Magenschmerzen mit der Gegenthese: „Lüge, nichts als Lüge!“
Die Wut, die dem zugrunde liegt, ist das Ohnmachtsgefühl, weil man mit Zahlen ja nicht diskutieren kann. Sie tun so, als seien sie jenseits des Gesprächs. Doch dabei ist es genau genommen umgekehrt: Denn erst im Gespräch – entweder im Selbstgespräch im Kopf des Nachdenkenden oder im offenen Disput auf offener Bühne coram publico – werden die Zahlengötter eingebettet in menschliches Handeln, bekommen so Bedeutung, werden so erst wirklich – vorher nichts als Abstraktion: von der Wirklichkeit abgezogen, also jenseits von ihr.
So gesehen wird dann der Genauigkeitswahn, der sich als Hüter der Wahrheit geriert, der das Ende der Unwissenheit und Unmündigkeit eingeläutet habe, zum bloßen Herrschaftsinstrument über die, die nicht so gut und so schnell mit Zahlen umgehen können. Nichts als Machtspiele, die Waffen sind die Zahlenskalen – an der Börse genauso wie in jeder Bank. Abgefedert wird dieses neue Religionsgefüge mit Hilfe einer eigenen Sprache, die von „Tilgung“ über „Dispo“ bis „Bilanz“ alles eintütet und so unter Kontrolle hat. Die Zahlen haben das Tun der Menschen unter Kontrolle und die Menschen, die die Zahlen kontrollieren, kontrollieren so auch die Menschen. Und wenn die dann von Lügen sprechen, haben die Zahlenhengste nichts als ein mitleidiges Lächeln für die Schreihälse: das ist das Geschrei von Losern, mehr nicht.
Wer aber einen Augenblick inne hält, nach – denkt und die letzten 500 Jahre Revue passieren lässt, der wird ohne große Mühe zu dem Ergebnis kommen können, dass nach dem Ende der Herrschaft der Religionen die Herrschaft der Zahlen nahtlos folgte.
Auch das globale Wiedererstarken der Religionen ist nichts anderes als die gleiche Münze nur wieder umzudrehen – aus dem Regen in die Traufe und zurück. Es wäre sicher besser, die jetzt so laut Wissenschaftler als Lügner bezeichnen, ins Gespräch zu verwickeln über das, was am Lügenargument brauchbar ist und was man gemeinsam stattdessen als species zur Überwindung der „neuen Religion“ tun könnte. Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!