Euopa – Mythos # 24
Europas erstes Kind: Wie soll es heißen?
Monate später. Die Gerüchte am Hof in Paito gehen genauso gemächlich wie die Wellen am nahen Strand. Der eine behauptet, Archaikos werde die Fremde zu seiner Hauptfrau machen, die gerade nuschelnd zerfallende Wellenkette scheint so etwas wie, ist doch eh alles egal, zu raunen, der andere weiß mal wieder nur aus bester Quelle, dass die Fremde gar nicht schwanger sei. Das sei bloß die üble Nachrede der wütenden Kriegsherrn vom anderen Ende der Insel. Der Minos von Kreta habe sie schwer beleidigt – beim letzten Empfang am Hof, als diese Fremde aus dem Land der Zedern angespült worden war. Er habe die zwielichtige Frau mehr beachtet als sie im Thronsaal, sei mit ihr sogar gemeinsam ins Innere des Palastes losgezogen. Das müsse man sich mal vorstellen. Wieder andere flüsterten in dunklen Ecken etwas von einer Zauberin: Sie habe ihn in ihrer Gewalt. Sie brauche ihn nur anzusehen und schon werde er schwach. Wenn das nicht Unheil für alle bedeutet! Sollte man sie nicht besser steinigen? Oder einfach auf ein Floß schnallen und ins Meer stoßen, auf nimmer Wiedersehen?
Die Berater des Minos von Kreta kommen gerade zusammen. Sie haben einen Auftrag bekommen. Sie sollen Archaikos einen Namen für das Kind vorschlagen. Also doch schwanger?! Also hat er sie doch zu seiner Hauptfrau gemacht? Also ist sie doch eine Zauberin? In den Gängen des Palastes herrscht aufgeregtes Schweigen. Niemand bekommt die Frau zu Gesicht. Seit Wochen, seit Monaten nun schon. Einer der Berater erzählt gerade seinen Kollegen, er habe in der letzten Nacht einen eigenartigen Traum gehabt: Ihm seien drei Männer erschienen, verschwitzt in einer düsteren Höhle, die hätten ununterbrochen auf ihn eingeredet, er habe sie aber nicht verstehen können. Ihre Stimmen waren zu leise, zu nuschelig. Nicht ein Wort, nicht ein Zeichen? Ja, vielleicht. Ja, was denn? Raus damit! Unerwartet tritt Archaikos ein.
„Nun? Habt ihr einen Namen? Wenn ich eure Gesichter so sehe, dann
weiß ich auch schon die Antwort!“
Die drei Berater schweigen betreten und nicken zögerlich. Da spricht der Minos von Kreta aber auch schon weiter:
„Was ich euch noch sagen wollte, euch Schlaumeiern: Ich hatte letzte
Nacht einen Traum, da erschienen mir drei Priester, hohe Priester sogar,
in einem dunklen Tempel und redeten zornig auf mich ein. Ich konnte
aber ihre Sprache nicht verstehen. Als ich sie das wissen lasse, lachen
sie ganz grässlich und mein Traum ist vorbei. Was könnte das zu bedeuten
haben?“
Als die drei das hören, sind sie fassungslos. Völlig verschreckt. Ängstlich blicken sie sich im Raum um, ob jemand ihnen zuschaut, ob jemand da ist, der die Träume erklären könnte, der Bescheid weiß. Oder der sie ihnen geschickt haben könnte? Archaikos versteht die verstörten Gesichter seiner Berater nicht. Schließlich beginnt einer von ihnen zu erzählen. Leise und stotternd. Als er fertig ist, fühlt sich auch der Minos von Kreta, Archaikos, wie von einem unheimlichen Wind berührt, der sie alle schonungslos zu streifen scheint. Um das bleiern schwere Schweigen zu beenden, wagt sich schließlich einer der dreien vor und sagt etwas, von dem er selber nicht weiß, wie es ihm in den Sinn gekommen ist:
„Wenn es ein Sohn wird, sollte er den Namen Minos bekommen.“
Alle starren den Sprecher an. Seine beiden Kollegen, weil sie sich wundern. Das wüssten wie aber, wenn sie das beschlossen hätten. Sie sind wütend auf ihn. Dürfen es aber nicht zeigen. Zumal Archaikos‘ Miene sich aufhellt, als er auf das Gehörte antwortet:
„Minos? Was für ein kühner Gedanke! Minos. Das passt zu ihr.“
Und ohne weitere Reaktionen abzuwarten, verlässt er fluchtartig den Raum. Was dann unter den drei Beratern abgeht, das sollte besser dem Gebot der Verschwiegenheit unterliegen. Denn sonst müssten viele unschöne Sätze aneinander gereiht werden, die sowie so nichts mehr ändern können. Der Name steht fest. Minos. Archaikos eilt gerade zu der Hochschwangeren. Als sie es hört, freut sie sich sehr. Alles wird gut, denkt sie.