Europa – das wirkliche Leben findet hier statt # 90 – Heimat-Text Nr 9
Das wirkliche Erleben ist so einfach erlebbar – europaweit und anderenorts.
Die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Teilhabe, nach vertrautem Gespräch ist unstillbar. Kein Unendlichprogramm tanzender Algorithmen, keine Dauerkonsumschnäppchenjagd können dieses starke Gefühl nach dem einfachen Dasein in bekanntem Umfeld ersetzen oder klein reden.
In diesen Tagen, da der Duft des Frühlings jeden packt und schwindlig macht, wird das altvertraute Sehnen erneut sein Recht fordern: Es lässt sich nicht betrügen – virtuelle Welten duften eben nicht, digitale Angebote wärmen eben nicht. So suchen wir lieber neue Nähe gleich nebenan.
Bilder von trippelnden Twitterhengsten, Raketenbahnen zu ausgerechneten feindlichen Zielen oder Tabellen mit Leistungsbilanzen großer Volkswirtschaften im Vergleich – von langweiligen Börsenkursen, die blumig rosige Zukunft versprechen sollen, ganz zu schweigen – kommen einer marginalen Aufmerksamkeitsspanne gar nicht mehr in den Blick, geschweige denn ins Gehirn. Wozu auch? Die Mengen – von Werbungsbotschaften auswegslos umstellt – überschreiten jedes menschliche Fassungsvermögen.
„Warum denn in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah; lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da…“
Warum in einer Metallkiste mit 9000 anderen Menschen eingesperrt übers Meer getrieben werden, wenn im Nachtigallental ein Picknick tausendmal zauberhafter zu erleben wäre – umgeben nur von Vogelkonzert und den Witzen der Freunde, denen vor Lachen gltzernde Glückstränen kommen?
Das ist auf dem kleinen Kontinent Europa so leicht und so vielfältig zu erleben, in soviel verwandten Sprachen zu erzählen, an so vielen Seen und Flüssen zu bewerkstelligen, dass jeder Total-Energieausfall völlig unbemerkt vonstatten gehen würde, weil man vereinbart hatte – eigentlich nur so mal als Gag – den Ausflug zu Fuß oder per Rad und ohne schnurlose Geräte spontan zu unternehmen, um zu schauen, ob man das überhaupt noch kann und wie sich das anfühlt.
Derweil tobt sich im Äther die virtuelle Wolke aus – und zernichtet im Nichts und unbemerkt.
Wir aber hatten eine schönen Sonnentag in europäischen Gefilden – die Geldbörse wurde schön geschont, das Fahrrad durfte zeigen, was es hergibt und das sehnsüchtige Gefühl nach Teilhabe ist noch lange lustvoll in allen Nervenbahnen zu spüren – aber nicht als Sehnsucht, sondern als wirkliches Erleben.