Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 10
Europa im Wechselbad der Gefühle
Ihr Atem stockt. Hat sie das eben nur geträumt? Starr gegen die kalte Steinwand gepresst schmerzt sie das raue Material im Rücken. Mehr aber schmerzen sie die Sätze des Vaters, seine Drohungen. Als wenn die bösen Worte im dunklen Gang noch weiter eigensinnig toben wollten, so rauscht es ihr in den Ohren. Atemnot plagt sie obendrein. Böse Geister scheinen um sie herum zu tanzen. Hämisches Lachen – tonlos zwar, aber bitterböse – kriecht in ihre Ohren. Wie muss es ihrer Mutter jetzt zumute sein? Nach solchen Kränkungen? Ich werde sie trösten müssen, sagt sie leise vor sich hin. Ja, sie braucht mich. Wir Frauen müssen uns gegenseitig helfen. Dann meint sie eine warme Hand auf ihrer Schulter zu spüren. Flüstert da jemand? Am Meer wirst du Linderung finden. Am Meer. Geh! Wer war das? Erst langsam, dann immer schneller schleicht sie durch die düsteren Gänge des Palastes. Niemand begegnet ihr. Zum Glück. Von weitem hört sie das Grölen, Lachen und Singen der Fremden. Sie feiern, denkt sie, sie feiern das Ende meiner Geschichte als Prinzessin. Reich beschenkt wollen sie schon bald mit ihr nach Osten ziehen. Vielleicht schon morgen? Zum Bräutigam ins Land der beiden großen Ströme. Ihre Füße tragen sie derweil leise aus dem Haus, durch dunkle Gassen, das kleine Fluchttor in der Stadtmauer, dann durch die Dünen. Der weiche Sand schmeichelt ihren Fußsohlen. Das tut so gut. Mit der frischen Luft verflüchtigen sich auch die Plagegeister in ihrem Kopf. Gierig saugt sie die Meeresluft ein. Am immer noch hellen Himmel meint sie den dicken Sichelmond schmunzeln zu sehen. Alle Beklemmung wie weggefegt. Stattdessen drängt sich das Bild vom Fremden wieder nach vorn in ihr Denken. War es die Göttin, die ihr ihre Hand auf die Schulter gelegt und geraten hatte, hierher zu kommen? Hat sie vielleicht auch dem Fremden Bescheid gesagt, sie dort zu treffen?
Als sie am Strand ankommt, muss sie herzhaft lachen. Was bilde ich mir nur ein, fragt sie sich keck? Als hätte die Göttin keine andere Sorgen, als Europa zu einem Mann zu verhelfen, den sie selber will! Aber es tut so gut, sich so etwas einzubilden. Natürlich weiß sie, dass der Fremde erst bei Neumond wieder hier sein wird. Klar. Aber ein Versuch war es wert. Hätte ja sein können, dass er es nicht mehr ohne sie ausgehalten hat und einfach früher zurückgeeilt war. So steht sie lächelnd am Wasser, lässt die ausrollenden kleinen Wellenketten an ihren Zehen züngeln. Sie reißt die Arme hoch, jubelnd schickt sie einen langen Seufzer über das Meer. Komm, komm, lockt sie den, den sie wiedersehen möchte, komm!
Dann bahnt sich der Streit der Eltern wieder einen steinigen Pfad zurück in ihre Phantasie. Aber diesmal blickt sie nur befremdet auf dieses Paar. Wie können sie nur so lieblos miteinander umgehen? Wie konnte Gewalt da so mächtig werden, wo doch sicher einmal tiefe Zuneigung gewesen war? Europa kann es nicht fassen. Langsam kniet sie nieder, kreuzt die Arme vor der Brust, atmet tief ein und betet zur Göttin:
Du hast mich bis hierhin geführt
Du hast mich all das Böse sehen lassen
Du hast mich beschützt trotz alledem.
Mein Dank soll meine Liebe sein
Mein Dank soll meine Vorsicht sein
Mein Dank soll meine Freude sein.
Du hast mich stark gemacht
Du hast mich geduldig lernen lassen – meine Amme…
Du hast mich geleitet bis hierhin.
Mein Leben wird gelingen mit Hilfe deiner weisen Fügung.
Dann erhebt sich Europa wieder. Alle Angst verscheucht. Stolz und aufrecht geht sie zurück in das falsche Leben der traurigen Eltern. Sie werden sich wundern, denkt sie voller Freude.