Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 125
Des Meeres und des Tanzes Wellen.
Während die jungen Tänzerinnen erschöpft auf ihren Matten liegen und nicht wissen, ob sie träumen oder wirklich gerade im Rausch der Begeisterung der Zuschauer fast gemeint hatten zu fliegen, gehen die Kreter noch wie benommen vom Tanzplatz vor dem großen Tempel hinab ans Meer. Keiner will schon nach Hause. Alle fühlen sich wie verwandelt. Diese Bilder, diese Körper, diese Farben, diese Töne! So etwas haben sie alle noch nie gesehen und gehört. Keiner weiß es in Worte zu fassen. So ist es still am Ufer. Viele sitzen im immer noch warmen Sand, manche schlendern Arm in Arm am Wasser entlang. Die Blicke wandern übers Meer. In den Köpfen der meisten überschlagen sich immer noch die Bilder, die Gefühle, die Sehnsucht. Wonach? Die Stille gibt wortlos die Antworten. Jedem. Das Gleichmaß der kleinen Wellen, die in immer wieder neuen Formen sich erheben und dann wieder zerfließen, lädt die Betrachter ein zu genussvollem Betrachten und erregenden Träumen. Wie welke Blätter fallen Wutnester und Angstknäuel von ihnen ab, zerbröseln im fahl verlöschenden Licht der untergegangenen Sonne. Warme Haut findet weiche Stellen. Selbst die alten Ratsherren wandeln versonnen an den in die Ferne blickenden Bürger vorbei und das ohne alten Feindschaften hinterher zu hängen. Plötzlich ist ihr Blick frei für Zukunftspläne, für friedliche Allianzen, für Versöhnung mit Archaikos, dem Minos von Kreta. Wie das? Ein echtes Lächeln läuft ihnen über die zerfurchten Gesichter. Auch Chandaraissa, die Hohepriesterin, und ihre Freundin Europa schlendern am Meer entlang. Sie fühlen, wie dieser Tanz der jungen Frauen alle verändert hat, wie sehr die Freude, die Lebensgier von allen unverstellt Besitz ergriffen haben. Am liebsten würden sie eng umschlungen hier vorbei gehen, aber soweit sind die Kreter wohl noch nicht. So berühren sie sich beim Gehen immer wieder nur leicht an den Armen. Wohliges Gefühl durchströmt sie dabei.
Archaikos ist gleich – noch während alle anderen gar nicht aufhören wollten, beifällig zu klatschen, zu jubeln, zu jauchzen – zurück in den Palast geeilt. So hat er sich noch nie gefühlt. Die Abendluft, die er tief einatmet, beflügelt ihn. Dieser Duft, diese Kühle, diese Klarheit.
Jetzt liegt er auf seinem breiten Bett und versucht zur Ruhe zu kommen. Mit geschlossenen Augen horcht er in sich hinein, er hört Europas Stimme, sieht dazwischen immer wieder die fast fliegenden Körper der jungen Tänzerinnen. Eine wohlige Erregung wandert dabei durch seinen ganzen Leib. Europa. Sie an seiner Seite wird Kreta in ein von Lebensfreude und Frieden geprägte Insel umbilden.
Wieso ist er sich da so sicher? Die Musik und die Bilder der tanzenden Priesterinnen müssen in ihm etwas freigesetzt haben, das er vergessen hatte, dass er unterdrückt hatte. Warum nur?
Waren es vielleicht doch nicht nur die Musik, die Farben und Figuren, die ihn gerade verwandeln, war noch etwas Größeres im Spiel?