Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 141
Telephassa und Agenor treffen ihre toten Söhne. (Teil 2)
Chirons Frage trifft die beiden völlig unvorbereitet. Sie wissen selber nicht, warum sie winken. Die drei jungen Fährgäste kümmert das Gespräch nicht. Sie genießen das kalte Nass von Lethe und die Leichtigkeit des Vergessens.
Und als jetzt Chiron mit seinem Boot direkt an Telephassa und Agenor, dem ehemaligen Königspaar von Sidon, vorbeigleitet, schmunzelt er versonnen. Die Gäste im Hades wirken freudlos, aber auch frei von Hass und Neid. Sie schweben geradezu vor Gelassenheit.
„Hallo, ihr beiden, schön, dass ihr uns zugewunken habt. Die neuen Gäste bekommen so gleich ein heiteres Bild von unserer Welt, stimmt‘s?“
Telephassa versucht sich zu erinnern, auch Agenor denkt angestrengt nach. Aber es fällt ihnen nichts ein. Und die drei jungen Männer – draußen in der Menschenwelt hatten sie auch Namen gehabt: Kilix, Kadmos und Phoinix, Brüder von Europa – versuchen sich gerade an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Ihre Eltern, an denen sie gerade vorbei gerudert werden, erkennen sie nicht mehr.
„Wer waren denn die beiden?“ fragt Kadmos den Fährmann leise.
„Ach, die? Das sind zwei, die stehen oft hier um Neuankömmlinge zu begrüßen“, antwortet Chiron möglichst beiläufig.
„Kamen die euch nicht auch irgendwie bekannt vor?“ fragt Kilix seine Brüder; die Antwort des Fährmanns klang ihm nämlich wenig glaubwürdig. Doch die schütteln nur mit ihren Köpfen. Außerdem finden sie die vor ihnen liegende Gegend viel interessanter als diese beiden winkenden Leute. Nebelschwaden hängen wie zerfetzte Laken über dem schwarzen Wasser, das wie mit weißen Flecken bemalt wirkt, die von schwarzer Wasserfarbe wie in lauem Wind bewegt werden. Eine bleierne Stille schwebt über allem. Fahles Licht schimmert von irgendwoher auf das sich entfernende Fährboot. Telephassa und Agenor würden sich eigentlich jetzt gerne streiten, weil sie die Neuankömmlinge nicht nach ihren Namen gefragt haben. Aber eine wohlige Trägheit hindert sie daran. Und ihr Lächeln schwankt hin und her zwischen schelmisch und wehmütig. Die Gefühle dazu sind ihnen aber auch nicht mehr deutlich.
„Komm, gehen wir.“
„Wohin denn?“
„Egal. Hauptsache wir gehen.“
„Hör mal, wo ist eigentlich unser Schiff, mit dem wir hier angekommen sind?“
„Sind wir mit einem Schiff angekommen?“
„Keine Ahnung. Mir ist gerade nur keine andere Frage eingefallen.“
„Ich bin müde.“
„Ich auch.“