Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 145
Die Hohepriesterin weiß nun ihre Träume zu deuten. Blatt 1
Herbst kehrt heim. Die Insel empfängt ihn gerne. Diesmal sogar besonders gerne. Leise, kühl, behutsam. In blassen und milden Farben. Er fühlt sich an wie ein samtenes Kleid, das jetzt jeder trägt. Seit der Hochzeit des Minos mit Europa strömt durch die Körper der Kreter wärmeres Blut. Seit dem überwältigend schönen und wunderbaren Tanzfest welken ungute Gefühle wie Unkraut, das unter den grellen und heißen Strahlen der Sonne verbrannt ist. Es keimt Neues. In Frauen wie Männern gleichermaßen. Nein, nur fast Vergessenes. Tanzende Priesterinnen, wehende Gewänder, bunte Bänder. Die Bilder wachsen seitdem weiter in den Köpfen derer, die es erlebt haben. Tag um Tag, Nacht um Nacht. Öl glänzt auf nackter Haut. Begierde ruft geduldig und überwältigend. Die Kreter fühlen sich wie Kinder des Sonnengottes. Schwerelos im anderen versinken. Lustvoll. Wie leicht, wie wahr, wie schön! Und die Melodien dazu!
Jeder Trommelton versinkt pochend und bebend im Blut aller.
„Spricht sie gerade mit dir?“ fragt Europa. Dabei fährt sie sanft über ihren Nacken, die Schulter und den Arm hinunter. Die Freundin nickt. Schnell legt sie ihr rechte Hand über die Europas. Erregung flutet ihre Körper.
„Ich weiß jetzt, was wir tun sollen, Europa!“
Das leise Klatschen nackter Frauenfüße auf blankem, kalten Marmor im Vorhof des großen Tempels. Kichern, Flüstern junger Mädchen, die aufgeregt zusammenkommen.
„Weißt du, worum es geht?“ fragt die eine die andere. Manche verdrehen die Augen, manche ziehen die Schultern hoch, manche nicken vielsagend. Der Schatten in der Vorhalle schwebt wie eine kühlende Brise über der Versammlung. Selbst die Elstern tippeln aufgeregt oben über Balken hin und her. Was geht hier vor, scheinen sie zu fragen. Dann wird es still.
Chandaraissa spricht zu ihnen von den Eingangsstufen her. Europa links neben ihr.
„Ihr Lieben. Dies ist ein Augenblick in unserem Leben als Priesterinnen der großen Göttin, den wir nie vergessen werden. Im Rausch der Musik und des Tanzes hat mir die große Göttin ihre Botschaft für uns offenbart.“
Die Hohepriesterin hält inne. Ihre Zuhörer halten den Atem an. Und Europa lächelt. Wie könnte sie lauten, die Botschaft?