Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 15
Die weise Kräuterfrau überlistet locker den dreimal klugen Gott
Wie er schläft, wie er träumt! In seiner Traumgeschichte ist er jetzt natürlich der großartige Überwältiger, der unwiderstehliche Frauenversteher. Europa wacht mit einem Lächeln auf. Sie schaut sich den Schlafenden prüfend an: Ist es ein Grinsen oder doch nur ein kindliches Lachen, das ihr Fremder aufgesetzt hat? Und wieder habe ich gewonnen, scheint es sagen zu wollen. Diesmal könntest du dich aber getäuscht haben, herrlicher Mann, denkt Europa vergnügt. Wohltuend die feucht-frische Luft hier in der Höhle. Schmeichelnd die Stille, beruhigend das ferne Rauschen der Wellen. Sanft streicht die kühle Morgenbrise über nackte Haut. Ist es ein Traum? Bin ich wirklich mit ihm übers Meer geflohen? Auf einem mächtigen Floß mit bauchigem Segel? Ja, so war es wohl. Denn jetzt strömt blendend hell Morgensonnenlicht herein. Weich und von ihren Körpern noch warm das goldene Vlies, auf dem sie göttliche Stunden verbracht haben – gleich nach ihrer Ankunft auf dieser fernen Insel. Ihre Göttin hat ihr Gebet erhört: Sie ist frei, dem Eheversprechen der Eltern entkommen, sie hat ihr Leben mutig selbst bestimmt. Gut, ganz alleine ging es nicht. Aber der Fremde, der ihr jetzt – neben ihr liegend und den Schlaf des Erschöpften genießend – wie ein kleiner Junge vorkommt, war zur rechten Zeit erschienen, hatte sie mitgenommen. Und sie hatte keine Angst gehabt, denn ihre Göttin musste das alles so gefügt haben. Aber jetzt muss sie sich schnell entscheiden, denn aus dem erwachten Fremden könnte allzu leicht ein Mann mit Besitzansprüchen werden, ein Beherrscher – wie ihr Vater. Und dann wäre diese kühne Flucht völlig umsonst gewesen.
Vorsichtig löst sie sich aus der Umarmung des Schlafenden neben ihr. Ein zufriedener Seufzer entfährt seinen Lippen. Schlaf du nur weiter, flüstert sie schmunzelnd. Schnell wirft sie sich ihr weißes Gewand über, das allerdings nur noch von weitem an weiß erinnert: Die lange Fahrt auf dem Floß hat ihre Spuren darauf hinterlassen. Das ist gut so, denkt Europa. Ich muss wie ein ärmlicher Flüchtling aussehen, wenn ich…Sie wundert sich. Habe ich also einen Plan, von dem ich nur bis jetzt nichts wusste? Oder gibt mir das gerade die Göttin ein? Was muss ich denn als nächstes tun? Ihr fragender Blick trifft auf den kleinen Beutel, den sie am Gürtel getragen hatte. Ihre Amme hatte sie immer gut versorgt mit geheimnisvollen Kräutern. Das sticht ihr ins Herz. Der Vater hat sie töten lassen. Arme Amme, liebe Freundin! Soll er jetzt doch herum toben in seinem Palast: Wo ist meine Tochter? Ich lasse alle hinrichten, die daran schuld sind, alle, wird er brüllen wie ein Stier.
Da stellt sie sich kurzerhand ein heimliches Zwiegespräch mit der Amme vor:
„Europa, hör mir jetzt gut zu, ja!?“
„Warum so ernst, liebe Amme?“
„Lenk nicht ab, Europa, es ist wichtig!“
„Lenk nicht ab, Europa, es ist…“
„Gut, wenn du dich über mich lustig machen willst, dann…“
„Nein, nein, liebe Freundin, ich zerspringe beinahe vor Glück, wenn ich deine Fürsorge spüre, so wie jetzt!“
„Nun. Dann sei still und merke dir dieses: Das Kraut, das ich dir hier in diesen Beutel stecke, hat es in sich. Wenn du zum Beispiel einer Schlafenden es vor die Nase hältst, sie es in aller Ruhe einatmet, dann wird es wahre Wunder wirken. Sie wird in einen tiefen, tiefen Schlaf fallen, für lange.“
„Aber, was…“
„Unterbrich mich nicht, Europa! Pass gut auf diesen Beutel auf und nutze das Kraut auch nur dann, wenn du in großer Gefahr bist. Versprichst du mir das?“
„Ja, ja, natürlich! Danke!“
Damals hatte sich Europa überhaupt nicht vorstellen können, dass sie je davon Gebrauch machen würde. Sie hatte die Sorge der Amme insgeheim belächelt. Jetzt war sie tot und sie selbst ganz auf sich gestellt in der Fremde und in großer Gefahr. Denn was würde sich dieser Fremde, der als Schlafender so harmlos wirkt, als nächstes ausdenken, um sie zu beeindrucken, nachdem sie ihm ein so ungeheures Glücksgefühl gewährt hatte? Wird er sich nicht als ihr Bezwinger fühlen, sie für immer besitzen wollen? Wird er, da ist sich Europa sicher.
Und während sie das gerade denkt, haben ihre Hände längst den Beutel ergriffen, das Kraut heraus gekramt und sie sieht sich dabei zu, wie sie es dem Schlafenden vor die Nase hält. Der atmet einfach kräftig weiter seinen Schlafatemrhythmus. Aber wie lange muss ich ihn daran riechen lassen?
Jedenfalls wird es dauern, bis er zu seinem Bruder in die Unterwelt aufbrechen kann, falls er es überhaupt noch weiß, dass er das vorhatte, als er sich von seiner Frau locker und übermütig verabschiedet hatte. Und ob er sich darüber hinaus auch an die Begegnung mit dieser wunderbaren Frau erinnern wird, muss offen bleiben. Doch wird er sich sicher schnell eine eindrucksvolle Geschichte ausdenken, damit er nicht wie der Dumme dastehen wird, wenn alle um ihn herum auf dem Olymp unangenehme Fragen stellen werden, wo er denn so lange geblieben sei, der Rabenvater! Vielleicht fällt ihm ja eine ausgefallene Verwandlung ein, die er gewählt hatte, um sich bei den lykischen Bauern umzusehen, ob sie auch gottgefällig ihre Opfer auf dem Altar darbringen und Fremde und Flüchtlinge gerne bewirten. Zum Beispiel als Stier. Ja, warum nicht auch mal als Stier, als weißer Stier. Das würde doch sicher großen Eindruck gemacht haben. Unbedingt. Und sie werden es sicher weiter erzählen, immer wieder (notfalls wird er ihnen dabei helfen, es nicht zu vergessen), von Generation zu Generation werden dann die dummen Bauern von einem mächtigen weißen Stier erzählen, der da einst auf ihren Weiden aufgetaucht sei, die Kühe seien vor ihm brüllend geflohen, die Menschen auch, und dann sei er wieder verschwunden gewesen. Keiner weiß, wo er her kam und wohin er ging, aber dass er da war, dass wissen alle. Andere werden hinzudichten, dass danach die Ernten viel ertragreicher gewesen seien, andere werden das Gegenteil im Tone der Gewissheit beteuern. Das klingt doch wirklich nicht übel, träumt der betäubte Mann selig vor sich hin.
So, das reicht jetzt aber. Europa legt das Kraut wieder in das kleine Bündel, tritt vor die Höhle, atmet tief durch und ohne einen Blick zurück zu werfen, macht sie sich auf, als Schiffbrüchige bei den Inselbewohnern um Hilfe zu flehen. Sie fühlt sich stark in ihrem jungen Körper, voller Pläne und Wünsche ihr Kopf. Ihr Gesicht strahlt. Aber das muss sie ändern, sie muss verängstigt, ratlos, verwirrt wirken, sonst glauben sie ihr nicht die Schiffbruchsgeschichte. Göttin, steh mir bei, betet sie auf dem steinigen Weg zu den fremden Menschen. Und noch etwas sagt sie dabei ihrer Fürsprecherin:
„Ich werde auf dieser Insel einen Tempel für dich errichten lassen – er soll ein Zufluchtsort für alle Träumer, Verfolgten und Ratsuchenden sein, die deine Fürsorge zu schätzen wissen. Und darin soll es eine Gedenksäule geben, die an meine Amme erinnern wird. Sie hat mir ja schon als kleines Mädchen die Geschichten erzählt, die du ihr eingeflüstert haben musst. Und die Priesterinnen werden als großes Geheimnis ihren Namen weiter geben, von Generation zu Generation, und dazu ihre Geschichten weiter erzählen, die ich ihnen von ihr berichten werde. Sulamýth. So werden wir alle niemals in Vergessenheit geraten. Unsere Namen, unser Mut, unsere Klugheit und unsere sinnliche Freude am Leben.“
Und während ihr dieses Gebet durch den Kopf geht, sieht sie drei Kinder, die wohl von ihren armen Eltern zum Hüten ihrer kleinen Ziegenherde am Morgen losgeschickt worden waren, neugierig auf sich zu laufen. Vor Glück gerät Europa ins Schwanken, geht langsam in die Knie und lässt sich auf die Erde nieder, versucht ihrem Gesicht einen verhärmten Ausdruck abzuringen und streckt den furchtlosen Kindern ihre Arme entgegen und flüstert stockend: „Brot, Brot…“
„Schau nur, Schwester, da die Fremde, sie scheint etwas zu wollen!“
„Seh ich doch selber, bin doch nicht blind!“
„Aber, was sagt sie?“
„Wie sie aussieht! Sie braucht sicher Hilfe!“
„Ich finde sie trotzdem schön. Wie heißt du, wo kommst du her?“