02 Feb

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 152

Europas Zwillinge im Wirbelsturm der Machtkämpfe.

Als nun Europa die Tür zu den Räumen der Zwillinge aufstößt, bleibt sie – wie zu einer Salzsäule erstarrt – stehen. Ihr fehlen die Worte. Parsephon und Samadanthys am Boden, wild aufeinander einschlagend, schreiend, fluchend.

„Hört sofort auf, sofort!“ Europas Stimme überschlägt sich. Ihre beiden Söhne lassen unwillig voneinander ab, rappeln sich auf, atmen schwer, während ihre Augen weiter Blitze gegeneinander auszusenden scheinen.

Obwohl sie inzwischen junge Männer sind, ist ihre Mutter ihnen immer noch eine mächtige Autorität. Europa läuft aufgeregt vor ihnen hin und her. Sie ringt mit sich. Wie kann sie die beiden bändigen? Schließlich bleibt sie abrupt stehen, atmet tief durch und sagt dann:

„Archaikos liegt im Sterben, der Rat der Alten mauschelt unheilvoll vor sich hin, und ihr vergeudet eure Kräfte in kleinlichem Gerangel?“

Die beiden schauen sich nur verlegen an. Dann versucht Samadanthys ruhig zu antworten:

„Mutter, es tut uns leid. Sag, was du jetzt von uns erwartest, wir werden es tun.“ Dabei schaut er Hilfe suchend seinen Zwillingsbruder Parsephon an. Der nickt nur.

Europa ist erleichtert. Da ist sie wohl gerade im richtigen Augenblick dazwischen gekommen. Wer weiß, wie sich der Streit zwischen den beiden sonst entwickelt hätte.

„Setzt euch und hört mir zu. Die Zeit drängt.“

Im Stillen schickt sie ein Stoßgebet zur großen Göttin – gib mir jetzt die richtigen Worte ein, bitte, Göttin, bitte – die fast schon vergessene Botschaft vom Glück muss doch weitergegeben werden.

Erwartungsvoll schauen die Zwillinge ihre Mutter an. Denn anstatt sie – wie sie es verdient hätten – zurecht zu weisen, behandelt sie die beiden, als wären sie ergraute Ratsherren, mit denen sie eine Krise erörtern muss.

„Ich hatte heute ein sehr unangenehmes Gespräch mit Berberdus, dem Vorsitzenden des Rates der Alten.“

Warum kommt sie nicht gleich zur Sache, denkt Parsephon noch mehr verunsichert. Planen die vielleicht sogar einen Umsturz? Ist unser Leben in Gefahr? Wie in einem hohen Angstturm türmen sich nun die Ängste um die Fragen. Seine Hände zittern. Europa sieht es, geht aber nicht darauf ein.

„Es gibt unter ihnen eine Gruppe, die wollen unsere Familie vom Thron stoßen!“

„Nein, Mutter, nein, das dürfen wir nicht zulassen!“ unterbricht sie Samadanthys, als wäre er noch der kleine Junge, der trotzig seiner Mutter widerspricht.

Europa lächelt, obwohl ihr gar nicht zum Lachen zumute ist.

„Und Archaikos hat immer noch nicht sein Testament schriftlich aufgesetzt.“

Die Zwillinge können es nicht fassen.

„Was? Was sagst du da? Unser Vater, der Minos von Kreta, hat noch nicht…“

Europa unterbricht Parsephon:

„Der Schwächeanfall hat ihn völlig überraschend getroffen. Er hat bisher einfach nicht ans Sterben denken wollen. Jetzt hat er keine Zeit mehr zu zörgern. Und die Ratsherren versuchen ihn Tag für Tag zu beeinflussen. Er fiebert. Ich erreiche ihn kaum noch – als wäre er schon…“ hier bricht Europa ab. Ihr kommen die Tränen. Aber genau das möchte sie jetzt nicht. Vor ihren Kindern will sie stark scheinen. Stark.

Am liebsten würde sie ihren beiden Söhnen von ihrem Traum erzählen, den sie gestern Nacht geträumt hat. Aber sie ist sich nicht sicher, ob das gut wäre. Immerhin hatte sie sich in diesem Traum als Minos gesehen, als die Nachfolgerin von Archaikos, sie die fremde Prinzessin – zwar schon lange die Gattin des Minos, aber eben keine gebürtige Kreterin.

„Mutter, wir müssen handeln. Sofort. Sonst kommen die uns zuvor.“

Schon immer schwankt sie in ihrem Herzen, wer ihr lieber sei, aber jedesmal richtet sie streng über sich: Es gibt keine Unterschiede der Mutterliebe! Und jetzt spürt sie wieder, wie sehr Samadanthys in ihrem Herzen mitten drin wohnt, mittendrin.

„Das sehe ich genauso, Samadanthys. Aber der Rat der Alten wird niemals zustimmen, dass einer von euch beiden jetzt schon der Minos wird – ihr habt die Weihe zum Mann noch vor euch.“

Die Zwillinge schweigen zornig. So ein lächerliches Verfahren. Wir sind doch längst Männer, denken sie beide. Diese Weihe ist doch nur ein Ritual, nur…

„Aber wie sollte denn dann unser Handeln aussehen, wenn unser Vater…“da bricht Parsephon ab. Er will es nicht aussprechen.

„Eine Übergangslösung könnte alle überraschen. Ein Triumvirat sozusagen.“

Die Zwillinge halten die Luft an. Ein Triumvirat. Was denn für ein Triumvirat? Europa ist dieser Gedanken selber gerade erst in diesem Augenblick gekommen.

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