Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 187

Das Ende der Regentschaft von Europa auf Kreta. (Teil I)
Beim nächsten Vollmond ist es so weit: Europas Söhne, ihre Zwillinge, sollen sich nun endlich den Thron des Minos von Kreta teilen. Sie hatten geduldig gewartet, wenn auch nicht immer in Gelassenheit, denn viele Entscheidungen ihrer Mutter gefielen ihnen ganz und gar nicht. Sadamanthys und Parsephon hatten vor allem die Strafe für die alten Ratsherren nicht verstanden: Würden sie nicht versuchen, aus ihrem Kerker heraus Gefolgsleute für eine Rückkehr in die Freiheit zu gewinnen? Würden sie nicht versuchen, den Beginn ihrer Herrschaft zu unterlaufen – mit Attentaten, mit Gerüchten? Aber ihre Mutter hatte immer nur abgewunken: „Die große Göttin ist auf unserer Seite. Seid also unbesorgt!“ Das war ihre immer gleiche Antwort auf ihre Zweifel.
Schon weit vor Sonnenaufgang beginnen die Vögel eifrig mit ihrem Gesang. Laut und prächtig. Europa hatte schon ihre Gebete im Tempel der großen Göttin verrichtet, hatte mit ihrer Freundin, der Hohepriesterin Chandaraissa, noch einmal die Feierstunde vorbesprochen. Jetzt wirft sie einen letzten prüfenden Blick in den Thronsaal. Es ist alles so, wie sie es angeordnet hatte. Nur der Weihrauchduft fehlt noch.
Mit schnellen Schritten bewegt sie sich durch die stillen und sie dämmrig einhüllenden Gänge. Dann klopft sie kräftig mit dem bronzenen Minotauruskopf an die Doppeltür zu den Gemächern ihrer Söhne. Es dauert eine Weile, bis ihr geöffnet wird. Die beiden Diener verneigen sich erschrocken vor ihr: „Herrin, verzeiht, wir haben dich noch nicht erwartet!“ „Schon gut, schon gut! Sind die beiden noch nicht auf?“ fragt sie beim Eintreten. Wie können die beiden noch schlafen, geht es ihr durch den Kopf. Jetzt, wo ihr großer Tag anbricht! „Sadamanthys, Parsephon!“ Ihre helle Stimme füllt hallend den Raum. „Steht auf, sonst verpasst ihr noch eure eigene Inthronisation!“ Lachend klatscht sie in die Hände, reißt ihnen die Felldecken vom Lager und staunt, wie groß und kräftig sie doch geworden sind, ihre beiden Söhne, ihre Zwillinge. „He, was machst du da, ich friere!“ meldet sich nörgelnd Parsephon zu Wort. „Wir haben doch noch Zeit, Mutter, bitte!“ nuschelt Sadamanthys. „Nein, habt ihr nicht. Im Thronsaal werden schon bald die neuen Ratsherren und all unsere Ehrengäste eintreffen. Also los, rein in die festlichen Gewänder! Oder wollt ihr vom Volk als Schlafmützen verlacht werden?“
Das sitzt. Wie vom Blitz getroffen springen sie beide auf, steigen in die Wannen mit dem warmen Wasser, lassen sich einseifen, abtrocknen und einkleiden. Europa ist längst wieder unterwegs, um letzte Anweisungen für die Feierlichkeiten loszuwerden. Im gesamten Palast herrscht emsiges Treiben, Laufen, Tragen.
Jetzt schleichen sich die ersten frischen Sonnenstrahlen durch die Fenster, auf dem Dach stehen bereits die Posaunenbläser, um auch den Menschen unter im Hafen den Beginn der Feier anzukündigen.
Nur oben im Olymp – da ist jemand sehr schlechter Laune, ähnlich den alten Ratsherren unten im weitläufigen Kerker der Wächter und Pfleger des Minotaurus. Zeus zürnt Europa wie ein kleiner Junge, dem man vom Spiel ausgeschlossen hat. Und sinnt weiter auf Rache.