Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 2
Europa – Fortsetzungsgeschichte # 2
(…also hat es damals gar keine Entführung gegeben?
Es sieht wohl so aus. Und wenn man ganz genau hinhört in das Flüstern aus vergangenen Zeiten und Geschichten, dann könnte es vielleicht auch so geklungen haben:)
Von der Begegnung erzählt sie den Freundinnen nichts. Der Fremde gehört ihr noch ganz allein. Ihr Vater, der König, drängt, im kommenden Frühling soll die Hochzeit sein. Der Prinz aus dem fernen Ardash wird sie holen lassen, hat Vater gesagt. Aber Europa will den Prinzen nicht. Vor vielen Jahren, sie waren damals beide noch Kinder, haben sie sich einmal gesehen. Seitdem nie wieder.
Seit heute weiß sie, sie will mit dem Fremden gehn, der ihr am Ufer erschienen war.
„Ich werde es tun“, sagt sie leise, als sie abends am Fenster sitzt, aufs Meer schaut und sehnsüchtig dem Versinken des rotglühenden Balls zuschaut.
Gänsehaut wohlig überall.
Von den Bergen kommt ein kühler Wind herab, er bringt den Duft der Zedern mit. Er streichelt ihre heiße Haut.
Und die Mutter darf auf keinen Fall auch nur etwas ahnen von ihrem kühnen Plan.
„Und wenn er bei Neumond gar nicht wiederkommt?
Europa, quäl dich nicht selbst mit solch dummen Fragen!“ weist sie sich zurecht.
„Wenn ich diese Nacht von ihm träumen werde, soll es mir ein Zeichen sein. Die Göttin wird mir im Traum erscheinen, ganz sicher. Sie wird mich stark machen. Ich werde mit niemandem darüber sprechen können. Vor dem Einschlafen will ich beten. Inständig.“
Alle fühlen, dass etwas mit Europa geschehen sein muss. Sicher, sie lacht, aber nicht wie sonst.
Ja, sie ist eine gehorsame Tochter, aber doch anders als sonst.
So gehen die Tage dahin. Bald wird Neumond sein.
Dem König fällt auf, dass Europa jetzt häufiger zum Tempel geht, der Göttin Opfer bringt.
Woher kommt diese innige Frömmigkeit?
„Europa, du warst sonst immer so ausgelassen, was ist los?“ fragen die Freundinnen neugierig die Prinzessin.
„Was soll sein? Ich denke nach, bald werde ich euch ja verlassen müssen. Habt ihr das denn schon vergessen?“
„Ach was, doch erst im kommenden Frühjahr – wenn die Gesandtschaft des Prinzen überhaupt kommt“, beschwichtigen die Freundinnen Europa.
Als stünde die Zeit still, so kommt ihr das Warten auf den Neumond vor. Jedenfalls viel zu langsam.
An seine Gestalt kann sie sich noch erinnern. Aber sein Gesicht, seine Stimme? Ihr Gedächtnis lässt sie lieblos im Stich. Manchmal meint sie für einen Augenblick sogar, das Ganze nur erdacht zu haben. Vielleicht sind sie sich ja gar nicht am Strand begegnet, vielleicht will sie nur, dass es so war.
Dann träumt sie wieder. Am hellichten Tag träumt sie die glücklichste Geschichte mit dem Fremden. Einfach so. Und nachts, in ihren Träumen, erinnert sie sich dann wieder nicht mehr daran.
Neulich hatte die Göttin sie im Traum gewarnt:
„Europa, prüfe ihn, bevor du mit ihm gehst!“
„Aber wie? Wie könnte ich das tun?“
Da war der Traum schon ausgeträumt.
Als sie aus dem Schlaf hochschreckt, laufen ihr Tränen die Wangen herab.