Europa – Mythos # 42
Europa möchte einen Traum Wirklichkeit werden lassen
Noch schlafen sie, die beiden um ihre Lust betrogenen Wächter. Kopfschmerzen stattdessen. Aber die Frauen planen schon den nächsten Schritt. Wenn das die oberschlauen Zeusbrüder wüssten! Sie würden sicher zu einem Störfeuer ansetzen. Aber davon später mehr.
Chandaraissa, die Hohepriesterin im Tempel der Göttin der Insel, hat ihre beiden Lieblingsschülerinnen und ihre neue Freundin Europa im Morgengrauen zu sich rufen lassen. Sperlinge und die Lieblingsvögel der großen Göttin, die vorwitzigen Elstern, haben es natürlich mitbekommen, sie tratschen bereits laut und tonreich darüber und denken sich vergnügt ihren Teil: „Habt ihr mitbekommen, was Chandaraissa ihrer Dienerin befohlen hat? Habe mir sagen lassen, dass ihre beiden Lieblingsschülerinnen die Nacht gar nicht bei ihren Zwangsmännern verbracht haben, sondern… Stimmt doch gar nicht, denn…Halt den Schnabel, du Grünling!…Von dir lass ich mir schon mal gar nicht den Schnabel verbieten oder weißt du den Namen des angeblichen Bettlers, der Belursi einen Stein geschenkt haben soll? …Klar, hab ich gehört: Sysoniod, wer denn sonst und es war gar kein Stein, sondern ein…“ Und so in einem fort. Im Haus des Minos von Kreta aber schlafen noch die meisten. Europa hat sich zwar gewundert, schon so früh zur Hohenpriesterin gerufen zu werden, aber sie hat ein gutes Gefühl dabei, als sie durch die noch menschenleeren Gassen läuft. Auch Belursi und Sarsa kommt die Aufforderung nur recht. Ihre ihnen aufgezwungenen Männer, Nemetos und Thortys, wollen sie wirklich nicht erleben, wenn sie aus schwerem Schlaf erwachen werden und nicht wissen, was in dieser Nacht eigentlich mit ihnen geschehen war. So können die vier stolzen und klugen Frauen ungestört im Audienzraum des Tempels ihre List ausgelassen feiern. Zimbelhelles Lachen fliegt ausgelassen durch die kleinen Tempelfenster ins Morgenrot.
„Wenn selbst Sysoniod auf unserer Seite steht, dann müssen wir uns vor gar nichts mehr fürchten“, plustert es mal laut mal leise aus der Hohenpriesterin Mund. Zu gerne wüssten die ebenfalls wohlgefällig schmunzelnden Frauen, wer das denn eigentlich ist, dieser fremde Mann. Aber Chandaraissa erklärt es ihnen nicht. Noch nicht. Stattdessen erzählt sie begeistert von ihrem Traum:
„Da standen sie da mit offenen Mündern, die staunenden Männer, herzklopfend. Wir hatten getanzt in wallenden, durchsichtigen Gewändern, dazu war Musik zu hören: feine Flötentöne, zarte Streichklänge auf einer sirrenden Saite, lockendes Rasseln und monotoner Trommelton. Die vielen Öllämpchen flackerten, als wären auch sie ganz aufgeregt – wie die Männer, die immer nur flüstern konnten: Mehr, mehr, mehr!“
„Ein schöner Traum, Chandaraissa. Aber was können wir damit anfangen?“
„Wir könnten das doch auch mal vor dem Minos machen!“
Sarsa hatte den Einfall. Belursi ist sprachlos. Wie kann man nur glauben, der Minos von Kreta ließe so etwas zu? Da aber fasst Europa sich ein Herz und sagt:
„Warum eigentlich nicht? Ich könnte versuchen, ihn zu überreden – ein neues Fest hier auf der Insel, an dem alle teilnehmen dürfen; als Geschenk des Minos an sein Volk. Vielleicht schmeichelt ihm ja so ein Gedanke. Was meint ihr?“