Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 59
Zeus, der Gernegroß knickt vor der Tochter ein
Unser vollmundiger Schürzenjäger sitzt oben auf seinem Götterberg und bastelt weiter an seinem Racheplan. Dass er jetzt auch noch dieses Bild mitansehen muss, wie Europa gerade leise vom Lager des Minos von Kreta aufsteht und völlig ungesehen aus dem Palast schleicht: Nicht als ängstliche Frau, sondern als stolze Gewinnerin! Das macht ihn rasend vor Wut. Und sicher wäre er gleich zu seinen Brüdern gerannt, um ihnen zu sagen, dass sie ihren gemeinsam verabredeten Anschlag gegen die phönizische Prinzessin Europa gleich ins Werk setzen sollten, wenn nicht seine Tochter Athene – wie immer zum unpassendsten Augenblick – plötzlich vor ihm gestanden hätte:
„Vater, was bedrückt dich? Waren Nektar und Ambrosia heute nicht köstlich genug?“ Dabei legt sie vertraulich ihren Arm um seine Schulter.
Zu dumm aber auch, denkt Zeus. Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, Athene Rede und Antwort zu stehen. Aber er weiß, sie wird nicht locker lassen. Also dann doch lieber Flucht nach vorn:
„Nichts, meine Liebe, nichts. Ich bin nur etwas sauer, weil da unten uns nicht ordentlich geopfert wird. Das sollte dich auch unwillig machen oder?“
Athene grinst und schweigt, dann säuselt sie kichernd:
„Nichts? Das klingt aber gar nicht überzeugend, lieber Vater. Und vor unseren Altären unten sehe ich die Menschen fleißig Opfer bringen. Schau, selbst auf Kreta steigt schöner Rauch auf.“
Dass seine Tochter jetzt auch noch gerade auf diese Insel zu sprechen kommt, passt ihm überhaupt nicht. Aber er darf sich nicht verraten. Das gäbe solch ein Theater im nächsten Familienrat hier oben, dazu hat er überhaupt keine Lust. Seine Frau und Athene würden sofort gemeinsam über ihn herfallen, ihn in die Enge treiben. Nein, danke, dazu hatte er nun wirklich keine Lust. Jetzt.
„Wie schön“, säuselt er also zurück, „wie schön.“
Athene wittert allerdings den Braten.
„Eben noch sauer und jetzt ‚wie schön!‘, ‚wie schön!“? Was ist los mit dir?“
„Athene, bitte, ich bin einfach etwas müde. Erzähl mir lieber, was du gerade so treibst. Das wird mich sicher wieder aufwecken.“
Athene beschließt, einfach mitzuspielen. Aber sie wittert die Geschichte, die da hinter der Stirn des Göttervaters abläuft.
„Nun, ich bin eben drei Brüdern begegnet, die auf der Suche nach ihrer Schwester sind. Nette Jungs, übrigens. Söhne des Königs der Phönizier. Vielleicht kann ich denen sogar helfen, mal sehen.“
Zeus gefriert fast das göttliche Blut in den Adern, als er das hört. Jetzt muss er erst recht den gelangweilten alten Vater spielen.
„Ach, drei Brüder? Wie heißen die denn?“
Athene ist froh, dass ihr Vater wieder bei besserer Laune zu sein scheint – dank ihrer kleinen Geschichte. Sie hat keine Ahnung, wie falsch sie damit liegt.