Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 8
Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 8
Die Gäste stehen in der Halle und warten und warten. Wo ist der König? Da öffnet sich endlich die schwere Flügeltür. Ein Raunen geht durch die Reihen, einige weichen erschrocken zurück. Das Fackellicht glänzt und fließt über dunkle Haut. Die Muskeln darunter gespannt und gewölbt. Sie tragen Käfige aus dickem Bambus. Drinnen ein Pantherpaar, fauchend, knurrend. Da öffnet sich auf der anderen Seite der Halle die andere Flügeltür. Herein tritt der König. Er lacht, breitet die Arme aus und spricht mit lauter Stimme: „Das sind unsere Geschenke für den Bräutigam. Draußen lärmt eine große Ziegenherde, die gehört dazu und vor den Toren weiden noch zwölf junge Stiere. Auch die gehen mit euch fort, wenn ihr meine Tochter zur Hochzeit ihrem künftigen Herrn und König entgegen führt.“ Groß ist das Staunen, noch größer die Stille. Dann stampfen die Gäste mit ihren Füßen auf den glatten Lehmboden, sie kreuzen ihre Lanzenschäfte dabei. Laut klatschen die Holzstangen aneinander. In den Lärm brüllen die Panther hinein. Nun verbeugen sich alle vor dem König, der zu seinem Thron schreitet. Die schwarzen Sklaven liegen längst bäuchlings auf dem Boden. Ihnen ist es verboten, den König anzuschauen. Der ist zufrieden. Leise Trommelwirbel jetzt und Flötentöne. Agenor denkt: Europa wird mir fehlen. Das stolze Kind. Mit meinen jungen Nebenfrauen will ich neue Söhne und Töchter zeugen. Die Königin, meine Frau, werde ich nicht mehr anrühren. Sie ekelt mich an. Und sie ist allzu herrisch. Das gefällt mir nicht. Ich hätte die Amme verschont. Sie aber eiskalt das Todesurteil fordernd. Wenn Europa fort ist, soll die Königin sterben. An Kummer, werde ich sagen, an Kummer, weil ihre Tochter so weit weg von ihr ist. Ich kann nicht länger unter einem Dach mit ihr leben. Während er insgeheim diese Entscheidung trifft, lächelt er hinunter zu seinen staunenden Gästen, winkt mit gönnerhafter Geste, nickt dabei ab und an und lässt so alle meinen, er sei völlig zufrieden mit sich und seinem König Sein. Die Halle gefüllt mit dem strengen Geruch der wilden Tiere. Das gefällt Agenor nicht. Daran hatte er nicht gedacht. Plötzlich schlecht gelaunt gibt er seinem Zeremonienmeister ein Zeichen. Der zittert, verbeugt sich mehrmals und zischt die Sklaven an, sofort die Käfige hinaus zu bringen. Die springen lautlos auf, packen die dicken Bambusstangen und verlassen im Laufschritt die Halle. Warum tue ich mir das nur an, fragt sich der König, warum? Der Geruch der Panther und der Gedanke an seine Frau verstimmen ihn völlig. Der junge Mann in meinem Traum hat nichts gesagt von Gestank. Auch er hat mich also betrogen. Niemandem kann ich trauen. Agenor schnellt hoch von seinem Thron, die Gäste verbeugen sich hastig und verstört. Angst quillt in ihre Augen hinein. Was hat das zu bedeuten? Und schon hat der König die hohe Halle verlassen.
Die Königin betrachtet angewidert ihre Tochter. Sie ist so schwächlich. Von wem hat sie das nur? Ich lasse sie jetzt einfach ausschlafen. Die Königin spürt einen spitzen Schmerz unter ihrem Herzen. Europas Entsetzen behagt ihr gar nicht. Die Amme scheint ihr wichtiger zu sein als sie, die Mutter. Gut, dass ich mich durchgesetzt habe: Die Amme hat den Strang völlig zu Recht verdient. Agenor, der Zauderer, hätte sie sicher lieber begnadigt. Dieser Schwächling. Sie verlässt leise und zornig den Raum. Die Gäste dürfen auf keinen Fall etwas von Europas Schwächeanfall mitbekommen. Und Agenor auch nicht.
Europa wandelt währenddessen längst durch einen hellen, leichten Traum. Sie spricht dabei mit ihrem Vater. Das Gehen ist so leicht, das Lachen auch. Am Ufer kräuseln sich kleine Wellen, zahllos zart aneinander gekettet schieben sie zarte Schaumberge vor sich her. Europa hört ihre eigene Stimme. Aber sie ist ihr fremd. Ein Schauder läuft über ihre Haut. Ihre Füße aber genießen den weichen warmen Sand am Strand. „Vater, der Mann, der dir im Traum erschienen ist, der efeubekränzte, den kenne ich. Ja, wirklich, wir haben uns neulich am Strand getroffen. Er wollte sicher, dass du ihn kennenlernst. Oder war er versehentlich in den falschen Traum gerade.? Wie ein farbenprächtiger Falter, der sich bei der gelben Blume vertan hat? Denn eigentlich wollte er doch zu mir, zu Europa. Er will doch nur sagen, dass er – wie abgemacht – bei Neumond zurückkommt, um mich abzuholen. Doch völlig überrascht, dass er im falschen Traum gestrandet war, hat er sich schnell die Geschichte mit den Stieren, der Ziegenherde und dem Pantherpaar ausgedacht.“ Da lachen Vater und Tochter erleichtert. Ach so ist das. Mein Traum ist also ein falscher Traum, es sollte eigentlich deiner werden, Europa. Ein Bilderrätsel, natürlich! Europa, du hast es gelöst!