Europa – Fortsetzung einer alten Geschichte – Mythos # 55
Kadmos, Phoinix und Kilix am Scheideweg
Die Überfahrt war stürmisch und angstmachend gewesen. Deshalb atmen sie nun erleichtert auf, als die drei Brüder halbwegs festen Boden unter den Füßen haben. Die Insel der Schaumgeborenen. Als sie den Palast des Vaters so maßlos gedemütigt verlassen hatten – was können sie dafür, dass ihre Schwester Europa geflohen ist – waren sie ans Meer gelaufen. Atemlos hatten sie über das glatt und teilnahmslos daliegende Wasser geschaut. So ein Blödsinn! Als wenn sie hier eine Antwort finden könnten. Was sollten sie tun? Niemand flüsterte ihnen einen klugen Gedanken ein, niemand. Kein Gott, kein Halbgott, kein Zaubervogel. Schließlich war ihnen der Plan gekommen, als erstes zur Insel der Schaumgeborenen zu segeln. Sie wollten die Seherin dort befragen, wo sie die verlorene Schwester suchen könnten.
Nun sind sie da. Weiter ein übles Schwanken im Kopf und in den Beinen. Wie zuhause riecht es auch hier im Hafen nach Moder. Kreischen Seevögel wild durcheinander beim Streit um stinkende Beute. Kadmos lässt sich müde auf einen kleinen Berg Netze fallen. Phoinix und Kilix hinterher. Sie lachen. Aber da ist keine Freude bei. Das Geschrei der Fischhändler schmerzt ihnen in den Ohren. Schlafen, lange schlafen, das wäre jetzt das Beste.
„Wir müssen sofort zum Tempel der Schaumgeborenen, vielleicht hat die Seherin zufällig mal nichts zu tun.“
„Klar, die wartet bestimmt schon den ganzen Tag auf uns. Oder?“
Kilix kichert leise vor sich hin. Die Übelkeit nimmt langsam ab. Tief einatmen, tief einatmen, denkt er. Ich überlasse meinen großen Brüdern das Reden, denkt er schläfrig und erschöpft. Hau ab, blödes Vieh, faucht er ein langschnäbliges Ungeheuer an, das in ihrem Netzberg noch Beute vermutet. Unerschrocken zerrt es an den Seilen. Pickt und pickt. Erst als Kilix mit der Hand nach ihm schlägt, flattert es flach zwischen Masten und Segeln über das Hafenbecken davon. Insgeheim wünscht er sich dabei, dass seine kleine Schwester nie von ihnen gefunden wird. Er jedenfalls will das Seine dazu beitragen. Er liebt sie. Schon immer. Europa. Was für ein schöner Name, denkt er noch.
„Und Kilix? Was meinst du?“ fragt ihn Phoinix ungeduldig.
„Ja, lass uns gleich hingehen. Dann werden wir sehen, ob sie für uns Zeit hat. Auf!“
Kilix wundert sich über sich selbst. Wo holt er eigentlich solche Sätze her? So aus dem Nichts. Er war doch mit seinen Gedanken gerade ganz woanders gewesen.
Dann drängen sich die drei durch das Getriebe am Hafen. Auf der kleinen Halbinsel auf der anderen Seite des Städtchens sehen sie den Tempel. Als warte er auf sie. Wie mit einem großen Maul scheint er sie anzusaugen, verschlucken zu wollen. Riesig. Fremd und bedrohlich, irgendwie. Mit ziemlich gemischten Gefühlen nähern sie sich dem größer werdenden Rachen, der von dicken Säulen offen gehalten wird. Oder sind es steinerne Zähne? Mächtige Speere?
Wie dumm von uns, hierher zu segeln, geht es Kadmos durch den Kopf. Als wenn Europa so phantasielos sein könnte, sich an solch einen bekannten Ort zu begeben! Kopflos, unsere Entscheidung. Wir werden uns besser trennen müssen. Drei Wege, drei Möglichkeiten. Das erhört die Erfolgsaussichten.
Quietschend werden gerade die großen Tore des Tempels geschlossen. Zornig schauen sich die Brüder an. Wer ist schuld, dass sie zu spät kommen, heute? Oder: Was hat das zu bedeuten, dass der Tempel gerade dann geschlossen wird, wenn sie hinein wollen?
„Andere Länder, andere Sitten“, knurrt Kadmos wütend.
Da kommt eine Priesterin aus dem Seitentor direkt auf sie zu. Werden sie vielleicht doch noch von der Seherin empfangen werden?
„Es hat ein Beben gegeben, eben. Der Meeresgott scheint zu zürnen. Deshalb muss der Tempel der Schaumgeborenen geschlossen werden. Kommt morgen wieder. Jetzt darf niemand mehr hinein.“
Sprachlos hören sich die Brüder an, was die schöne Priesterin ihnen sagt. Wie verzaubert starren sie sie an. Ein Beben? Eben? Sie jedenfalls haben nichts davon gespürt.