Europa – Meditation # 107 Heimat-Text Nr. 24
Auf der Suche nach der verlorenen Heimat
Auf fast allen Kanälen der schier zahllosen Medien in unserer jungen Republik wabert zur Zeit die schwankende Hieroglyphe Heimat vor sich hin. Liegt es am Sommerloch? Oder an der unerbittlichen Hitze, die nun auch Nordeuropa brennend heimsucht? Oder an dem Moment der Stille, der um sich greift, wenn plötzlich der Alltag nicht mehr vom Rhythmus der Arbeit diktiert wird? Oder an der rasanten Zerfallszeit von Themen, Begriffen und politischem Leerlauf? Oder am Überdruss wegen der nervenden Bilderfluten, Tag und Nacht?
Von den mehr als achtzig Millionen Mitteleuropäern sind mehr als neunzehn Millionen solche, die ihre Wurzeln jenseits von Rhein, Mosel, Weser, Elbe, Oder, Donau oder Dreisam haben, um die geographischen Gegebenheiten schön im Ungenauen zu belassen.
Aber was auch immer an Herkünften beschworen werden kann, alle haben sie doch eines gemeinsam: ein schwer fassbares Gefühl nach ehemals vertrauten Gewissheiten, wo auch immer sie gleichsam mit der Muttermilch eingesogen wurden, jahraus jahrein…in all den verflossenen Jahren.
Da gab es eben keine Zerfallszeit, da schien die Zeit die Magd der träumenden Menschlein zu sein;
da gab es eben keine Bilderfluten, da schien jeder Schmetterling ein Wunderwesen, bei dem man gerne lang verweilte;
da gab es eben keine Kakophonie von allen Seiten, da schien der Amsel Stimme oder der Nachtigall Gesang oder – noch besser – die Stimme der Mutter wie Samt und Seide, schöne Begleiter auf atemberaubenden Tagträumen…
Auf jeden Fall spielt es dabei absolut keine Rolle, wo es war. Es war einfach nur wahr. Jetzt muss die Erinnerung zu Hilfe eilen. Da kommt es zu waghalsigen Ungenauigkeiten. Aber wir schwärmen dennoch gerne und immer wieder in solche ehemaligen Gefilde zurück. Wohl – weil sie etwas von Kraft und Sicherheit zu bieten hatten, was derzeit eher als Mangelware, als billiger Ausverkauf – um nicht zu sagen: Betrug – erlebt wird. Und die Ortlosigkeit dieser Billigangebote ekelt nur noch an.
So wird die Heimat zum unbedingten Sehnsuchtsort, der aus der Erinnerung sich speist, aber in die Gegenwart und Zukunft weisen soll, die mehr und mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren drohen.
Die schöne Nebenwirkung dieser Heimat-Tag-Träume ist dabei auch noch: Sie macht uns alle so was von verwandt – jenseits aller geographischen und sonstigen Besonderheiten und bedrohlichem Befremden – dass Streit, Hass oder gar Krieg eher lächerlich und überflüssig erscheinen müssten.
Warum aber tun sie es nicht?