Europa – Meditation # 15
Europa – Meditation # 15
Ein sich so oft wiederholendes Kommen und Gehen
Die „Halbwertszeit“ unseres europäischen Gedächtnisses schmilzt unbemerkt, aber sehr wirkungsvoll dahin: Waren wir nicht gestern erst – also vor allem im 17., 18. und 19. Jahrhundert – als Wirtschafts- und Glaubensflüchtlinge in die sogenannte Neue Welt, in die Vereinigten Staaten von Amerika unterwegs, auf lebensgefährlichen Reiserouten übers Meer geflohen? Hatten wir nicht Familien, Heimat, Haus und Hof verzweifelt verlassen und hofften auf einen Neuanfang in der Fremde? Hatten wir Europäer nicht auch auf Ellis Island, der Insel der Tränen, gewartet, gezittert und gebibbert, ob wir wohl einreisen dürften oder ob wir wieder zurückgeschickt würden? Aber das waren doch gar nicht so viele oder? Außerdem waren das keine Asylanten, sondern Auswanderer. Schön, schön, mit Worten lässt sich trefflich streiten. Tja, allein zwischen 1820 und 1880 kamen aus Deutschland mehr als 3,1 Millionen, die sicher gut deutsch sprachen aber kaum oder gar kein englisch. Nicht übel. Und erst das sonstige Sprachengewirr auf Castle Clinton und später auf Ellis Island…
Kurz noch zum Namen der Insel – wie soll unser Gedächtnis das denn auch alles behalten?
Die Indianer hatten sie schlicht Möweninsel genannt, die Niederländer als die ersten Ankömmlinge hier am Hudson-River nannten sie Austerninsel und die Stadt auf der langgestreckten Halbinsel Mannahatta (was wiederum ein Wort der Indianer ist und soviel bedeutet wie hügelige Insel) nannten sie einfach Neu Amsterdam, die sprachen alle ein flüssiges Niederländisch dort und die New Yorker gaben dem Eiland im Hudson-River dann später den Namen Ellis Island, nach dem letzten Eigentümer.
Hügelige Insel? Von den Hügeln ist heute nicht mehr viel zu sehen. Die wurden von den Eingewanderten einfach platt gemacht, um Fläche für neue Häuser zu gewinnen. Ach so, wusste ich gar nicht. Ja, ja, das arme Gedächtnis…
Auch damals ging es um Wirtschaftsflüchtlinge, oder um Menschen, die vor Kriegen flohen (Kriege gab es damals in Europa ja genug – immer wieder und immer verheerender!) oder die sich religiös verfolgt fühlten oder einfach der Armut und dem Hungerlohn davonliefen. Und so lange ist das nun wirklich nicht her. Und eine geradezu babylonische Sprachenvielfalt war ganz typisch für dieses Europa – wie heute, wenn auch viele inzwischen Englisch dazu gelernt haben.
Die Zurückgebliebenen und geschundenen Völker Europas hatten dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig genug von Krieg und Vernichtung und schlossen Verträge miteinander und Frieden, so verschieden sie auch waren.
Nun hat sich der Kriegsgott in Vorderasien und auf dem Balkan niedergelassen und scheint sich dort richtig wohl zu fühlen. Und die geschundenen Menschen aus den betroffenen Ländern fliehen jetzt nach West-Europa. Sie sprechen die Sprachen dieser Industrieländer nicht, die meisten glauben auch an andere Götter und ihre Vorstellungen von Familie, Liebe und Tod sind auf ganz anderen Denkinseln angesiedelt als die von uns West-Europäern. Und trotzdem lassen auch sie alles hinter sich: Ihre Familiengeschichten, ihre Romane, Märchen und die Alten und hoffen auf ein gewaltfreies, gesundes und zufriedenes Leben in der Fremde.
Bei Ovid kann man eine lustige Metamorphose nachlesen (auf Latein oder auf Esperanto, ganz gleich): Da kommt Zeus verkleidet als Asylant zu den lykischen Bauern und bittet um Brot, Wasser und Herberge. Die Bauern aber, die bekannt sind für ihr Getratsche, helfen dem Gott nicht, sondern setzen sich zuerst einmal in ihre Bar, trinken, essen und tratschen, wer das wohl sein könne, dieser Fremde, was der sich eigentlich einbilde, der sei wohl ein fauler Genosse und wolle sich sicher nur auf ihre Kosten mästen. Da wird es dem Gott zu bunt und kurzerhand verwandelt er diese quatschenden und selbstgefälligen Dickbäuche in Frösche. Und dann heißt es weiter bei Ovid: Aber selbst unter Wasser quatschen sie und quatschen sie und können nicht aufhören zu lästern und Häme auszuspucken.
Zur Zeit erinnern mich die Politiker in den west-europäischen Ländern stark an jene lykischen Bauern: Es wird geredet und geredet – in der Vorrede wird kurz das Mitgefühl angetippt, dann geht es aber gleich weiter zu den Sachzwängen – als Ergebnis in der Regel weitere Verhandlungen. Den ehrenamtlichen Helfern und Freiwilligen dauert das aber einfach viel zu lange. Sie schreiten einfach zu helfenden Taten und reden nicht viel; denn was die verunsicherten Fremden benötigen, sieht man auch ohne viele Worte. Gesten und Mimik der Menschen sind in allen Sprachen dieser Erde sehr ähnlich und sehr leicht zu verstehen.
Auch in dieser Notsituation wird aber überdeutlich, dass nicht die großen Institutionen – wie die Europäische Kommission zum Beispiel – die Menschen helfend in Bewegung zu setzen vermögen, sondern vor Ort die spontan gebildeten Grüppchen, die gerne helfen und nicht lange fragen, welche Gesetze da beachten werden müssen und welche Ämter national und international zuständig zu sein hätten.
Eine neue Solidarität macht sich breit. Die Politiker müssen Obacht geben, dass sie nicht bald am Rande des Geschehens zu stehen kommen, weil in der Mitte der Bürger die Dinge kurzerhand in die Hand genommen hat. Aber nicht nur die Politiker, nein auch die Präsidenten großer Verbände, Banken, Versicherungen und die Chefs großer Unternehmen. Sie alle würden gerne zentral und von oben herab die Dinge regeln, müssen allerdings erst einmal die Kosten-Nutzen-Rechnung durchspielen…
Aus der Antike kennen wir Europäer den Mythos um die Hybris der Menschen – die Götter strafen sie unerbittlich, wenn sie glauben, selbst gottgleich zu sein. Von diesem Mythos scheinen wir uns nachhaltig verabschiedet zu haben – die alten Götter gelten als vertrieben, als vergangen. Die neuen Götter nennen sich heutzutage Global Player, Broker oder Finanzgenies, die vorgeben, alles im Namen der Menschheit zum Guten wenden zu wollen, wenn man sie nur lässt! Sie glauben an die Macht des Geldes, mit dem man auch Berge versetzen könne und nicht nur die! Und Hybris? Ein alter Hut. Hat längst ausgedient…
Doch nach den großen Finanzkrisen, in denen sehr schnell und umfassend die europäischen Staaten voller Empathie für die verunsicherten Banker den Fehlentscheidungen der „ersten Etagen“ als Gläubiger und Bürgen entgegen getreten waren, ist dem Bürger das Vertrauen in die Vertreter dieser „ersten Etagen“ genauso abhanden gekommen wie das in die Vertreter ihrer eigenen Staaten.
Das ist ein gutes Zeichen. Denn es zeugt vom Selbstvertrauen der Menschen in die Machbarkeit des Möglichen – auch in einer Krise – und es zeugt von dem Misstrauen gegen die Apparate, die wie Kraken alles an sich ziehen und kontrollieren wollen. So wird das scheinbar unüberschaubare Tagesgeschäft zerlegt in seine kleinen Bestandteile und damit wieder erklärbar, verständlich und änderbar. Und jedes Land in Europa wird die Flüchtlingskrise in seiner eigenen Sprache und in seiner eigenen Bilderwelt sich selbst erklären und zu handeln wissen. Da tagen die Kommissionen in Brüssel und Straßburg unterdessen ins Leere hinein, bis auch sie verstanden haben werden, dass Europa kein Leviathan sein möchte und sein kann, sondern wie eine vielstimmige Komposition eine Kreation mit vielen Solo-Stimmen darstellt, die völlig gleichberechtigt nebeneinander agieren und klingen und sich im eigenen Haus am besten auskennen, wie man den Hilfe Suchenden am besten unter die Arme greifen kann.
Das ist dann eben keine abstrakte Solidarität der Europäer, sondern ein konkrete und vielfältige, an der sich jeder in seinem Umfeld nach besten Kräften und in seiner Sprache beteiligen kann.