Europa – Meditation # 166
Die Macht der Gewohnheit
Wir Europäer gingen gute zweihundert Jahre lang durch die Welt, als hätten wir die frohe Botschaft dabei: folget uns und ihr werdet glücklich sein … oder so ähnlich.
Jedenfalls mit einem ordentlichen Schuss Dünkel obendrauf.
Gerne haben wir uns daran gewöhnt, so durch die Welt zu stolpern. Blind für die kulturellen Errungenschaften anderer Kulturen. Alle sollten nach unserer Pfeife tanzen. Unheil und Unglück für die so „Beglückten“ wurden gerne überhört und übersehen. Und da Konkurrenz das Geschäft belebt, haben wir uns obendrein auch noch untereinander so richtig Stress gemacht: Wer war zuerst da, wer ist stärker, wer hat mehr vom Kuchen verdient? Da sollte der Nationalismus die Antworten bereit stellen. Und tat er es? Nein. Er zog statt dessen zweimal die ganze Welt in Kriegsgemetzel.
Und nun stehen wir Europäer da wie begossene Pudel und fragen uns erstmals: Was haben wir da eigentlich weltweit angerichtet? Aber es bleibt uns nicht viel Zeit zum Nachdenken und zum Antworten finden, denn andere wollen nun das Spiel spielen, mit neuen Karten und neuen Regeln. Neuen Dünkel werden auch sie sicher federleicht aus der Tasche zaubern.
Wir Europäer hatten uns aus der eigenen Geschichte ein Demokratiemodell zurecht gelegt, das scheinbar alle gesellschaftlichen Interessen fair zu koordinieren weiß.
Wir wählten aus dem Warenkorb des Modells die repräsentative Demokratie.
Volksparteien sollten unsere Interessen loyal verhandeln und zum Wohle aller voran bringen. Die Medien sollten uns helfen, den Vertretern stets eine kritische Begleitung sicherzustellen. 70 Jahre lang.
Nun machen sich Erosionserscheinungen europaweit breit: Das „Volk“ scheint sich nicht mehr angemessen vertreten zu sehen. Die sogenannten Volksparteien erodieren. Alarmglocken schrillen. Ist das gewohnte Modell an sein Ende gelangt? Schon möglich. Aus dem „Volk“ werden mehr und mehr nur noch „Völkchen“, weil man da eher den Überblick behält.
Und auch die Gewohnheit, die gewählten Vertreter opulent auszustaffieren, damit sie unabhängig agieren können, verkehrt sich in ihr Gegenteil: Die gewählten Vertreter scheinen das Modell zunehmend als Selbstbedienungsladen zu sehen. Vielleicht sollten sich die Europäer auch von dieser Gewohnheit – es ist ja keine Naturgesetz – verabschieden, und stattdessen das Los entscheiden lassen, damit jeder infrage kommt, sich keiner drücken kann und keiner darin alt werden muss.
Dem steht eigentlich nichts entgegen als die Macht der Gewohnheit. Wir Europäer sollten einfach den Mut aufbringen, alte Hüte abzulegen und weniger korrumpierbare Modelle dagegen einzutauschen. Denn wir sind europaweit das Volk, bzw. die Völkchen, der Souverän. Vor lauter Gewohnheitsbequemlichkeiten haben das viele wohl vergessen.