Europa – Eine gewaltige Botschaft (Meditation # 19)
Europa, Mythos
Erschrockener Blick zurück in die eigene Vergangenheit
Hatte da nicht eine Frau um Hilfe gerufen? Der Meereswind verwischte die Spuren mühelos und gern.
Durch eine List war sie entführt worden, gewaltsam. Der Täter fand es großartig. Europa, so hieß die Frau, die weitblickende wurde sie genannt. Doch diesmal hatte es ihr nichts genützt. Also hatte damals alles schon mit einer Untat begonnen, mit Tarnen, Täuschen und Betrügen? Es scheint so.
Ganze Völkerschaften wanderten in langen Trecks vom Norden in den Süden, verdrängten die dort wohnenden kurzerhand. Nichts ist uns von denen, die da überrannt wurden, überliefert. Alles, was wir zu wissen meinen, haben uns die Sieger erzählt und überliefert. Die Besiegten waren gewaltsam zum Schweigen gebracht worden. Geblieben davon ist uns nur das trojanische Pferd.
Angesichts der Erdgeschichte erweist sich die Geschichte der Menschen als kaum wahrnehmbarer Augenblick.
Dann kamen Eroberer von Westen her und machten aus den Ländern, in denen man sich Europas Geschichte erzählte, steuerzahlende Provinzen. Bis neue Völkerschaften anbrandeten, sich über gepflasterte Straßen von Osten nach Westen ergossen und der lateinischen Kultur im Westen den Garaus machten – später auch im Osten.
Sprachen gab es viele, die meisten hatten sich vermischt mit der Sprache Senecas und Lukrez‘ De rerum natura.
Aber der Gewalt blieb man auch weiterhin verhaftet – wenn auch nun mit scheinbar göttlichem Auftrag. Jerusalem nannte man damals: Mittelpunkt der Welt. Drei eifersüchtige Götter gruben sich arglistig gegenseitig das Wasser ab – die Wasserträger waren gutgläubige Menschen, Europäer eben und deren Nachbarn.
Allmählich lernten sie in Gegensätze zu denken, stellten der Unterwerfung die Befreiung entgegen, entwarfen ein neues Bild vom Menschen, dessen Würde nicht anzutasten war. Gestalteten dieses neue Denken in prächtigen Gemälden, beeindruckenden Plastiken, großen Erzählungen und herrlichen Klängen.
Doch die wütenden Götter schufen sich neue Gehilfen, fanden noch listenreichere Finten, um auch diesen Befreiungsversuch zu unterlaufen, als Teufelswerk zu verspotten. Kein Land in Europa vermochte sich diesem Würgegriff zu entziehen. So wurden wieder viele zu Flüchtlingen, flohen übers Meer in eine neue Welt, wo sie ein neues Jerusalem errichten wollten – jenseits von Gewalt und Bevormundung.
Das alternde Europa verlor das Interesse an göttlichen Sendungen und baute sich eine eigene, praktische Welt, die auf dem Marktplatz verhandelt und versteigert wurde: Wer mehr bot, erhielt den Zuschlag. Und bald wuchsen Waren und Goldbarren in schier göttliche Größen – der neue Gott war geboren: der homo oeconomicus europae.
Und unaufhaltsam – wie ein Krebsgeschwür – nahm er alles in Besitz, immer im Namen europäischer Weltbeglückungsangebote, die niemand ablehnen durfte.
Bis heute so.
Eine kurze, kleine Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Pseudobeglückung – immer im Namen jener weitblickenden Frau, die selber einst gewaltsam entführt und gefügig gemacht wurde.
Wäre es nicht an der Zeit, sich eine Geschichte auszumalen, in der dieser Europa kein Leid mehr angetan wird und in der alle die Völker, die sich ihr verpflichtet fühlen, endlich gegen Gewalt eine friedliche Welt verwandter Völker und guter Nachbarn gestalten könnten, die jedem Flüchtling bereitwillig Asyl gewährt?