17 Sep

Europa – Meditation # 218

Ich denke; also bin ich, denke ich – frei nach Descartes

(Kein philosophisches Märchen, Teil II)

Und wenn dem so wäre, dann fallen alle die Genauigkeits-Gebirge lautlos in sich zusammen, und die Musen beginnen von Neuem ihren wohltuenden Tanz.

Denn die scheinbaren Sicherheiten, die uns als solche schon so lange erscheinen, sind es ja nur geworden, weil wir sie immer und immer wieder wiederholt und unser Handeln dann daran orientiert haben. Und wie oft schon mussten die Erdlinge erleben, dass sie sich getäuscht hatten, dass ihre genauen Entwürfe Makulatur wurden, weil neue Denker neue Sehweisen anboten.

So auch jetzt vielleicht.

Die Leidenschaft, mit der wir der Musik lauschen – in welchem Modus auch immer – die Begeisterung, mit der wir Literatur lesen – von welchem Autor auch immer und aus welchen Zeiten ebenso – und das große Staunen, mit dem wir – jenseits der Fotografie – Gemälde nicht müde werden anzuschauen, weil sie in Farbe und Linie dem Augen immer wieder ein Schnippchen schlagen und wir nicht aufhören, darüber zu streiten, was wir „eigentlich“ zu sehen meinen, und die Sprachlosigkeit, mit der wir fasziniert dem Geschehen auf einer Bühne folgen, wohl wissend, dass es Theater ist, aber dennoch im Erleben für wahr halten – wie nach einem guten Film, in den wir eingestiegen waren und am Ende erschrocken feststellen, es war doch „nur“ ein Film – in all diesen künstlichen Welten fühlen wir uns so, als kämen wir nach Haus.

Demgegenüber lässt uns die „Welt der Zahlen“ kalt und unbefriedigt zurück, obwohl sie doch so sehr um unsere Anerkennung ringt.

Das ist wohl der Grund, warum die Faszination dieses cartesianischen Weltgebäudes in sich zusammenstürzt wie ein eiltes Kartenhaus, in dem clevere Bluffer hinter vorgehaltener Hand ihre falschen Trümpfe zusammenhalten, auf dass niemand ihnen in die Karten schaut und das Trugbild entlarvt als das, was es ist: eine EINBILDUNG.

Und so wie wir Europäer zu Beginn der sogenannten Neuzeit uns hinter Descartes in Reihe aufstellten um im Gleichschritt in die Zukunft zu marschieren und dabei wenig zimperlich waren mit allen, die den Schuss nicht hören wollten, so können wir nun endlich – völlig erschöpft, irritiert und außer Atem – einhalten, den großen Irrtum eingestehen, dessen Folgen so viel Unglück und so viel Natur zerstört hat, die wir doch zum Atmen und Leben so nötig haben, und anfangen wahrzunehmen, wie irreführend unsere Wahrnehmung sein kann und wie vorsichtig wir damit umgehen sollten und wie sehr wir einander brauchen – jenseits der Sachen – um in diesem Lebenslabyrinth zumindest vorläufig so etwas wie Verstehen, Liebe und Geborgenheit erleben zu können, bevor uns die Natur wieder aus dem Rennen nimmt.

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