15 Dez

Europa – Gewalt und Geschichte (Meditation # 22)

Europas unsägliche Tradition der Gewalt

Richtig oder falsch, das ist hier die Frage! Mutig stellt sich der Fragensteller diesem scheinbaren Gegensatz. Aber im Grunde ist diese Frage so gar nicht zu stellen. In der europäischen Geschichte des Nachdenkens über das, was die Welt im Innersten zusammenhält, gab es zwar von Anfang an so etwas wie Schwarz-Weiß-Malerei beim Behaupten und Schlussfolgern, doch daneben wanderte auch immer eine andere Denkfigur stolz und voller Einfühlungsvermögen mit: Die dreischrittige Art zu folgern – da waren die Gegensätze gut aufgehoben, fühlten sich wohl, kamen zu Wort, lernten aber auch selber zuzuhören, denn stets gab es daraus dieses Dritte, völlig Neue, das aus dem vordergründigen Widerspurch geboren wurde: Die große Versöhnung im Fremden, im bis dahin noch nicht Gedachten. Die Natur, die große Vordenkerin in all diesen Möglichkeiten, zeigt anschaulich seit eh und je, wie aus Werden und Vergehen immer wieder Neues entsteht, dass also das Werden genauso wenig wie das Vergehen Anfang- oder Schlusspunkte von etwas sind, sondern stets Durchgangsmomente zu oft völlig unvorhersehbaren Entwicklungen daraus.

Denker solcher Sehweisen sind den Europäern wohl vertraut: Heraklit, Demokrit, Epikur, Lukrez, und dann nach langer Denkpause Montaigne, Goethe, Nietzsche und heute vielleicht Gadamer und Derrida und Alexander Kluge, um nur einige wenige zu nennen.

Fast klang ihre Botschaft aber wie das eines Rufers in der Wüste. Wer hörte sie denn?

Andere wussten sich da besser zu verkaufen. Aristotelisches Wortgeklimper. Entweder oder. Ist doch logisch oder? Was wahr ist, ist entweder so oder so. Und wer nicht hören will, muss eben fühlen.

Männertexte.

Und die Frauen?

Obwohl sie es besser wussten, schwiegen sie, denn die Männer dominierten nicht nur die Texte, sondern auch die Macht im öffentlichen wie im privaten Bereich. Lukrez kam auf den Index. Punkt. So geriet die hoffnungsvoll begonnene europäische Geschichte in eine fast endlos Gewaltspirale, in der die Männer einen Krieg nach dem anderen anzettelten. Gründe gibt es in einem schlichten Schwarz-Weiß-Modell immer genügend. Und der Fremde war dann auch immer der Feind, der getötet oder zumindest zu unterwerfen war. So auch der bescheidene Prediger aus Aramäa, der doch tatsächlich die peinliche Botschaft feil bot: Gewaltlosigkeit sei die natürlichste Weise menschlicher Existenz. Vor allem Frauen, Sklaven und Veteranen in den herunter gekommenen römischen Legionen fanden das gut und erzählten es weiter, schrieben es auf. Aber alte Männer rissen die Texte an sich und gründeten einen exklusiven Club mit klaren Regeln: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Kleine Könige wussten den Club und seine Regeln klug zu nutzen, um ihre Gewalt zu heiligen. Man schmiedete eine furchterregende Allianz aus Weihrauch, klaren Zeichen und fremd klingenden Ritualen. Und auch einen Gründungsmythos wussten diese Schwarz-Weiß-Männer listig nachzuliefern – schließlich musste Gewalt eine göttliche Tugend sein : Wie ein Gott gewaltsam eine Frau entführt, sie vergewaltigt und schwängert: Europa.

Je größer der Krieg, je blutiger die Schlachten, desto stolzer waren die Sieger – bis sie selbst im eigenen Blut versanken, meistens. So schrieb sich die unsägliche Geschichte der Gewalt in Europa fort; kleine Jungen mussten diese Geschichten auswendig lernen, bevor sie Teil derselben wurden – sei es als Gewinner, sei es als Verlierer.

Dann begannen sie, sich die Erde untertan zu machen, die Europäer, beuteten sie gewaltsam aus, brachen Weltkriege vom Zaun, bis die Männer auf eine noch gewaltigere Idee kamen, um sich und ihre Sippen unüberwindlich zu machen: Fortschritt, Wachstum und Konsum in einer Endlosschleife sei das Prinzip, das alle glücklich macht.

Männertexte.

Und die Frauen?

Wie leidenschaftliche Archäologinnen sollten sie den Mythos Europa noch einmal aus der eigenen europäischen Geschichte hervorgraben, um dann erstaunt feststellen zu könnnen: Die von den Männern erzählte Variante ist eine mutwillige Kopfgeburt, die wirkliche Europa wusste eine ganz andere Geschichte zu erzählen. Vom natürlichen Dreischritt der Dinge in der Natur und unter den Menschen; Gewalt entblättert sich da nachhaltig als Schwäche, Irrweg und Kurzschluss.

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