Europa – Meditation # 279
Die Flüchtigkeit von Welt und Leben. Teil III
Nachts. An der Ahr, die wütet und tosend tobt. Das schöne neue Holzhaus steht längst unter Wasser. Es schüttet weiter, als wäre der Himmel ein Meer, das leer zu laufen droht. Dämme und Schleusen wohl überspült da oben. Und da unten?
Franz sitzt – oder besser: hangelt – mit seiner Frau Ilse auf dem First ihres schönen Hauses. Die Solarzellen glänzen dunkel unter ihnen. Rätselhafte Figuren bildet das reichliche Regenwasser auf der spiegelglatten Oberfläche. Deltas. Wanderdünen…
Ilse hält das schreiende Lenchen im Arm, mit der anderen Hand versucht sie sich stabil aufrecht zu halten. Die Todesangst sitzt ihr krampfend in den Beinen. Oskar kann es nicht fassen. Sein Vater hält ihn fest an sich gedrückt, sie können kaum das Gleichgewicht halten.
„Papa! Wann kommt denn endlich der Hubschrauber?“
Fritz atmet schwer ein. Er kann seinem kleinen Sohn nicht in die verängstigten Augen sehen. Er schaut in die schwankenden Wasserwände, die sich im stürmenden Dunkel verlieren. Irgendwo meint er einen blauen Schimmer ausmachen zu können. Ist da die Rettung im Anflug? Gut, dass es Eimer vom Himmel schüttet, so muss mein eigener Sohn nicht sehen, wie mir die Tränen die Wangen herunter laufen, denkt er noch.
Dann sieht er einen Campingwagen auf sie zu trudeln. Als er gegen den Giebel prallt, zittert der gesamte Dachstuhl. War das ein Fest gewesen, das Richtfest! Wie stolz waren die beiden Brüder auf ihr Werk gewesen!
Da rauscht wie ein Torpedo ein glatt geschälter langer Baumstamm auf ihr Haus zu, durchbohrt den Caravan wie Butter und donnert krachend in den Giebel.
„Fritz! Ich kann nicht mehr!“ Ilse ist wirklich am Ende. Lenchens Geschrei ertrinkt im Starkregen. Oskar hält sich krampfhaft an den Schindeln fest. Ihm ist kalt, er schluchzt, schaut zum Vater. Wie lange werden sie das durchhalten, wie lange?
Da kommen weiter Baumstämme hinterher, rasen polternd durch den Caravan, der gekreuzigt am Giebel baumelt, zerschmettern die Dachwand, als wäre sie aus Papier.
Als jetzt ächzend der Dachstuhl in sich zusammen stürzt und die gesamte Familie mit in die Fluten reißt, verschluckt das Tosen der wilden Wasserwände in der Luft wie nichts die kleinen und großen Todesschreie.
„Ich bekomme keine Verbindung mit Franz“, sagt an der Ostsee der Bruder zu seiner Frau Billa. Totaler Ausfall.“
„Ich hab so ein komisches Gefühl, Fritz…“ flüstert Billa. Mit einem Ohr hört sie hinüber zu den gleichmäßigen Atemzüge ihrer Zwillinge. Alles gut, alles gut. Aber die unten an der Ahr? Wenn sie beten könnte, würde sie jetzt beten. Aber sie kann nicht. Schlafen geht aber auch nicht.
„Versuch es doch noch einmal, bitte, Fritz!“
„Gerade hab ich meinen Bruder ganz deutlich vor mir gesehen, ehrlich. Schock. Aber die Handy-Verbindung ist tot.“
Billa kommen die Tränen. Sie weiß auch nicht warum. Sie kommen halt einfach.
Und 2024 – bei der Olympiade in Paris – wer wird sich da noch daran erinnern? Ehrlich. Fritz, der Bruder, und seine Familie sicher. Aber schon die Zwillinge werden nicht mehr wissen, wie Oskar und Lenchen ausgesehen haben. Und die Ahr? Da hofft man wieder auf weinselige Gäste.