Europa – Meditation # 292
Wider den neuen Fetisch – Digitalisierung!
Nach dem CIRCLE nun EVERY von Dave Eggers. Einer, der den Puls der Zeit zu schnuppern weiß, landet zielgenau in diesem Moment seinen neuesten Bestseller. Denn während in Washington gerade eine Insiderin von Facebook auspackt, hat Eggers bereits eine konsumfreundliche Fassung des Problems geschrieben. Die Leser werden lesend genüsslich davon Gebrauch machen, während sie gleichzeitig ihre Apps und Mails checken, damit sie ja nichts verpassen. So kokettiert jeder mit seiner längst vollzogenen digitalen Abhängigkeit und zunehmenden Unfreiheit.
Verpassen? Was denn verpassen jenseits der Wolke?
Höchstens das sinnliche Leben selbst, das nämlich ungestört einfach da ist und genossen werden könnte. Könnte.
Vor der Wahl war in der BRD der Ruf in allen Parteien groß, dass endlich auf dem Feld der Digitalisierung Nägel mit Köpfen gemacht werden müssten – vor allem auch in den Schulen. Und auch jetzt, in den Koalitionsverhandlungen ist dieses Thema ganz vorne mit dabei. Klar. Denn „Modernisierungs-Schub“ klingt wunderbar nach Aufbruch, nach Dynamik, nach virtueller Morgenluft – jenseits des Miefs einer analogen Welt, in der nur noch von Korruption bei der Polizei, in der Politik, in der Wirtschaft, in den Banken die Rede ist. Von den Missbrauchsfällen in den Kirchen Europas und der Welt ganz zu schweigen. Auf Dauer eher ermüdend und lähmend.
So zappeln die Europäer – Erfinder und Vollstrecker des Cartesianismus – in ihrem eigenen Zahlen- und Fakten-Netz, das sie sich für ein freieres und unabhängigeres Leben selbst einst erfanden und zu perfektionieren versuchen. Die sogenannten side-effects werden dabei stets klein geredet, Kinderkrankheiten eben, weiter nichts. (Hier sei nur erinnert an das großmäulige Tönen in Sachen Entsorgung von Atommüll in den 50er Jahren des letzten Jahrtausends.)
Obwohl doch jeder halbwegs wache Teilnehmer am Pandemie-Geschehen in Deutschland längst wissen könnte, was die Fokussierung auf home-office und Lernen vor dem Bildschirm für „Herz-Schäden“ verursacht.
Kinder (von den Erwachsenen könnte Ähnliches berichtet werden) brauchen eben analoge Kinder und Lehrer, um sich selbst als das zu erleben, was sie sind: Hilfsbedürftige, liebeskranke und verunsicherte Lebewesen, die sich nach nichts mehr sehnen als nach Nähe, konkreter Nähe des Mitmenschen. Sei es, um den Unterschied zu sich selbst analog zu erleben, sei es, ertragreiches Lernen über das Lob des Lehrers zu gestalten oder sei es einfach den wohltuenden Unfug zu inszenieren, den man allzu gerne in den Pausen kultiviert. Der einsame Gang zum Kühlschrank oder das genervte Zappen durch öde Programme oder hektische Ballereien ist eben kein Ersatz für das wirkliche Leben.
Deshalb sollte der Ruf nach mehr Digitalisierung in den Schulen wohl gehört, aber nicht überbewertet werden. Was Kinder brauchen – da kann ich mich nur wiederholen – ist das wirkliche Erleben des Lernens unter Mitmenschen.