Europa – Meditation # 310
Politik möchte auch mal poetisch sein dürfen!
Was ist das denn für ein befremdliches Ansinnen, das da aus dem Parlament ins OFF stolpert? Die Idee, dem deutschen Bundestag eine Parlamentspoetin oder einen Parlamentspoeten zu berufen, tut zwar irgendwie gut und könnte einen glatt zum Lachen bringen – angesichts der in Dauerschleife wabernden Themen der Pandemie, der Klimakrise, der Kriegstreiber und der professionellen Gesundbeter – aber „mit Poesie einen diskursiven Raum zwischen Parlament und lebendiger Sprache zu öffnen“, lenkt nicht nur von eben diesen brennenden Themen ab, nein, sie verundeutlicht den wesentlichen Unterschied zwischen politischem Diskurs und poetischer Widerständigkeit zu dem, was für wirklich gehalten wird.
Jede Vereinnahmung von Kunst in die politische Sphäre hat doch nur gezeigt, wie sehr dann Politik die Kunst für ihre Ziele vereinnahmt – wo auch immer es so inszeniert wurde: Im Südafrika der Apartheid, im Guantanamo-Betreiber-Land, in der UdSSR oder der DDR. Die Gedichte oder Romane funktionierten prächtig als Nebelkerzen, die das Gewaltmonopol der jeweils Herrschenden idealistisch zu befeuern hatten. Wie sehr dagegen die autonome Kunst gleichzeitig dort bekämpft wurde, lässt sich an zahllosen Beispielen von Künstler-Existenz-Vernichtungs-Büros und deren Handlangern zeigen. Auch die Zeiten vor und während der beiden Weltkriege in Europa liefern für beide Muster genügend Beispiele: Neben der Verherrlichung des Staates und ihrer Repräsentanten durch Staatsliteraten, Maler und vor allem Bildhauer, die unbestechlichen Künstler, die dabei ihre Existenz aufs Spiel setzten, ins Exil gehen mussten (wenn sie es denn noch schafften) oder samt ihrer Werke vernichtet wurden.
Als kleiner Exkurs vielleicht Amanda Gormans Auftritt auf dem Capitol Hill:
jung, euphorisch, selbstbewusst und schwarz trug sie mit Verve ihre Utopie in Versen vor – The Hill We Climb – medial ein bezauberndes Ausrufezeichen.
Dabei machte sie sich zur jubelnden Komplizin eines politischen Konzepts, das der „weiße Mann“ mit rassistischer Gewalt nach wie vor durch boxt (Guantanamo lässt grüßen!) und dass sie in ihrem kühnen „We“ ertränkte, als wäre es göttliches Nektar und Ambrosia. Ein Instrumentalisierung der Kunst (und in diesem Falle auch der Jugend) zum Zwecke einer Identitätshymne, hinter der sich scheinbar alle vereint sehen sollen. Was für ein bodenloses Theaterstück!
Die Kunst muss sich einfach zu schade bleiben für solchen Missbrauch, sie sollte weiter das Geschäft betreiben, das uns als Zeitgenossen zugemutet werden muss: Sprache ist keine wirkliche Wirklichkeit, sie schafft aber eine, die undeutlich und vieldeutig uns immer wieder damit konfrontiert, dass wir alle an Narrativen stricken, die home made sind, kurzlebig und dünnes, allzu dünnes Eis, auf dem wir leichtfertig eine Komfortzone einrichten, die jeden Augenblick sang- und klanglos einstürzen kann.