Europa – Meditation # 354
Gorbi – Knete
Ist es unsere Vergesslichkeit oder ist es doch eher reiner Mutwille, wenn wir immer wieder unsere eigene Wahrnehmung überarbeiten, überzeichnen und schön färben?
Da in der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einiges schief gelaufen war – moderat formuliert – hatten wir Deutsche uns im schweigsamen Büßerhemd den Siegern willfährig unterworfen: Im Westen den Amerikanern, im Osten den Russen. Die ideologische Marschrichtung schlürften wir süffig mit – entweder Wachstum um jeden Preis weltweit oder eben Überwindung dieses Wachstums-Mantras im endgültigen Sieg der Arbeiterschaft weltweit. Wir Deutsche waren brave Claqueure des jeweiligen Herrn, dem wir reumütig dienen wollten. Der Böse war selbstverständlich immer der andere. Wie mit der Muttermilch wurde der Antikommunismus eingesogen, jeder Lehrplan lieferte die Lehrbücher für die richtige Einstellung im Westen, genauso wie der Klassenfeind im Osten für jeden jungen Sozialisten der Kapitalismus war.
Als aber der neue Generalsekretär Gorbatschow im März 1985 neue Töne anschlug, die schließlich zum unblutigen Fall der Berliner Mauer führten, drehten sich die Fähnchen im Winde gerne um. Plötzlich war Russland denkbar, auch im gemeinsamen Haus Europa dazu zu gehören. Wie bitte?
Gorbi und Raissa wurden so nach und nach geradezu zu Lichtgestalten, und unser Kohl kochte sein Süppchen mit Gorbi, als wären sie alte Klassenkameraden.
Dann wurden die Deutschen – gerade holter-die -polter wiedervereinigt – auch noch von Gorbi links überholt: der wollte doch tatsächlich der Opfer des politischen Terrors der Stalinzeit öffentlich gedenken, mit Andrej Sacharow als Vorsitzender der Organisation „Memorial“ .
Schon da gingen viele der ehemaligen erfolgreichen NS-Mitläufer in ihre Unterstände. Und die von der Treuhand wollten auch alles nur zum Wohle aller zerschlagen haben.
Nach sechs Jahren waren Gorbis Siebenmeilenstiefel dann zum Glück passé. Schwamm drüber.
Und dass er damals das Reaktorunglück von Tschernobyl verschweigen ließ und dass sowohl in Vilnius als auch in Tiflis die Schritte hin zurUnabhängigkeit gewaltsam nieder gemacht wurden, ist natürlich beim abschließenden Elogen-Gesang doch nur eine eher peinliche Fußnote.
Wir kneten uns unseren Gorbi schon so, wie er in unsere derzeitigen Wahrnehmungen passt.
Ähnlich wie mit unserem atlantischen Freund: eben noch trumpisch angeekelt und bereit, die alten Abhängigkeiten, die uns doch schon so weit von unserer eigenen kulturellen Identität haben abdriften lassen, empört abzuschütteln und Europa in den Mittelpunkt deutscher Außenpolitik zu stellen – also ein Art splendid isolation à la Europe – oder dann plötzlich doch wieder eine geradezu stahlharte Nibelungentreue zu beschwören (100 Milliarden Euro mal schnell aus der Portokasse) zu unserem großen Freund in Übersee. Was für ein Wankelmut, was für ein bigottes Lamentieren! Und falls Trump doch noch der nächste Präsident werden sollte? Was dann? Kneten wir uns dann ein trumpsches Maskottchen, um den bösen Russen und den unheimlichen Chinesen mit einer selbstlosen Nato widerstehen zu können?