Europa – Meditation # 377
„Als Staat ist das ehemalige Königreich Preußen längst erloschen,
doch sein Erbe bleibt. Wie wir mit ihm umgehen, sagt viel über unser
Selbstverständnis und Geschichtsbewusstsein.“
(aus: General-Anzeiger – JOURNAL / Samstag/Sonntag 11./12. Februar 2023/S. 1
von Thomas Kliemann)
Seit einem Jahr beherrscht wieder das Thema „Krieg in Europa“ die Medien. Tag für Tag werden die Zuschauer in Europa überreich mit Bildern, Nachrichten, Interviews versorgt, die ordentlich mithelfen, dass „WIR“ uns daran gewöhnen, dass das, was gerade ist – neben Sport, Erdbeben und Inflationsrate (von Inzidenzen ist von einem auf den anderen Tag keine Rede mehr!) – normaler Alltag zu sein hat. Die Wiederholungsschleifen helfen dauerhaft beim Betonieren des Bildes, das zur gewaltsam aufgerichteten Panzerwand mutiert scheint und dass nur mit Gewalt wieder eingerissen werden kann. Das dauert eben.
Leid, Angst und Schrecken. Nicht nur in den Erdbebengebieten, nein, auch in den östlichen Landstrichen der Ukraine – und nicht nur da.
Gleichzeitig läuft in Mitteleuropa mal wieder ein Narrativ an, das scheinbar nichts mit dem aktuellen zu tun hat: (oder doch?) Das nachträgliche Korrigieren von Gewesenem, wie es in Namen erinnert wird: Bismarck, Schmitt, Stöcker, Deutsches Reich, Preußen…, in dem man gewohnte Namen aus der eigenen Geschichte ausradiert, weil sie mit Gewalt, Unterdrückung und autoritären Strukturen verbandelt sind. Aufrechte Demokraten fegen ungute Erinnerungen aus ihrem sauberen Haus, in dem moralische Ansprüche bis in die Straßennamen hinein reinen Tisch schaffen. Als könnte man auf diese Weise das Erinnern, bzw. das Gewesene in den Keller verbannen, wo es keinen Schaden mehr anrichten wird.
Auf solche Ideen können wohl nur Mitteleuropäer kommen, die durch ihre eigene Geschichte immer wieder zwischen die Räder kamen, zwischen Ost und West, zwischen fortschrittlichem und beharrendem Denken, zwischen Gewaltbereitschaft und Pazifismus. Neutralität war da fast immer ein Begriff, der einem das Fürchten lehren sollte. Nun sollen endgültig die „guten Namen“ ist Töpfchen und die schlechten ins Kröpfchen. Die Jury ist selbstverständlich über jeden Verdacht von Parteilichkeit erhaben.
Wäre es nicht angebrachter, statt auszusortieren einfach zu erklären, was mit welchem Namen verbunden ist und wie wir als Zeitgenossen die früheren Generationen zu sehen gelernt haben und wie sich dieses Wissen mit dem eigenen Wissen von Generation zu Generation wandelt, weitet, wächst oder schrumpft? Weil wir Europäer immer Teil der Geschichte bleiben werden, die wir in den letzten zweitausend Jahren uns selbst und der restlichen Welt zugemutet haben? Weil daraus nicht nur unsere Begriffe, unsere Bilder und Monumente, sondern auch unsere Werte und ihr Wandel entstanden sind, sondern auch deren Überschreibungen, Verschönerungen und Weglassungen und im Erzählen bildreich haben explodieren lassen – zu Überwältigungsfresken oder sogenannten Ewigkeitsmustern, an denen wir uns fleißig abarbeiten sollten?
Dann werden wir Europäer vielleicht auch ein wenig behutsamer mit dem neuen bellizistischen Feuerwerksgerede im Angesicht des Krieges in der Ukraine umgehen.