Europa – Meditation # 430
Der Unwetter-Kreisel dreht sich weiter und weiter.
Zur Zeit ist er wieder mehr auf der andere Hälfte der Erdkugel unterwegs, der Unwetter-Kreisel, sorgt für Überschwemmungen und Wirbelstürme. Und die Statistiker schauen in ihren langen Tabellen nach, ob es vorher schon einmal solch heftige Ausschläge gegeben habe. Meistens ist die Antwort: nein.
Wir aber auf der nördlichen Halbkugel finden das Wetter zwar ungemütlich, weil zu nass und zu kalt und zu windig, aber so waren doch die letzten Winter alle. Jedenfalls laufen die Talsperren endlich wieder voll, berappelt sich der Grundwasserspiegel Richtung Normallage – was soll also das ganze Gejammere überhaupt?
Da zeigt sich das Kurzzeitgedächtnis des homo sapiens von seiner Schokoladenseite: Nächstes Jahr wird bestimmt alles besser. Alternative Energie wird weiter wachsen, das Brutto-Sozial-Produkt ebenfalls, der Anteil an Elektrofahrzeugen wird so richtig durch die Decke gehen (wir Europäer müssen jetzt endlich mal hier produzierte E-Autos nach vorne bringen) – also wird doch alles besser werden – oder?
Außerdem werden sicher auch noch in anderen Staaten Europas endlich Ministerien für Einsamkeit geschaffen werden (die neuesten Beschlüsse in Sachen illegaler Zuwanderung in ganz Europa werden endlich dieses Fass ohne Boden gründlich reparieren), schließlich ist das andauernde, stumme Starren auf Bildschirme ein echter Schlauch für die nach Kommunikation gierende Seele. Und das monotone Hämmern auf der Tastatur tut dem Bewegungsapparat auch nicht gut.
Wie wäre es denn da mit dem analogen Lesen eines wirklichen Buches und dem anschließenden Debattieren über das Gelesene mit Freunden, die tatsächlich einem direkt analog gegenüber sitzen?
Um nicht zu übertreiben bei dem Neustart, schlage ich ein dünnes Büchlein – nicht einmal 100 Seiten – von Peter Sloterdijk vor – mit dem dramatischen Titel: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung.
Da werden wir nämlich ganz fest an die Hand genommen, auf Sauf- und Sextourismus samt All-inclusiv-Kreuzfahrten zu pfeifen und stattdessen – jetzt zum Beispiel: in der Tag-und Nachtgleiche mit Glühwein und herzhaftem Bissgut versorgt – mit den ebenfalls frustrierten Nachbarn auf bessere Zeiten anzustoßen. Nebenan auf der Wiese am besten. Denn da wird – ähnlich wie im Sommermärchen, dem völlig unterschätzten – ein wärmendes Wir-Gefühl bedient, das wir mehr brauchen als alles andere. Das kostet nicht viel, bringt aber so einiges an Wohlbefinden, unerwarteter Nähe, aus der dann auch Solidarität wachsen kann. Kann man üben. Auch auf der Straße. In allen großen Krisen war Helfen in großem Stil einfach angesagt. Da kam Optimismus richtig in Fahrt. Kriegen wir zusammen hin.
Wenn Mütter genervt auf dem Kinderspielplatz die Wohlerzogenheit des eigenen Kindes vergeblich vorzuführen versuchen, kann es vorkommen, dass drei oder vier seufzende, alleinerziehende junge Frauen jovial zuzuhören scheinen, wenn eine besonders kluge sagt: „Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf“.
Das Witzige an diesem Satz ist allerdings, dass er – leicht abgewandelt – auch für uns, die mit dem Glühwein in der Hand und der Pokerface-Maske auf dem Weihnachtsmarkt, gilt:
„Zum Wohlfühlen braucht es eben ein ganzes Dorf – aber auf gar keinen Fall die unterkühlte Anonymität der großen Städte oder Metropolen!“
Kiez, Veddel oder so und ohne diese Blechkisten-Anmache auf und unter der Erde. Überschaubar eben, vertraute Gesichter. Das wäre echt ein qualitativer Sprung nach vorn – wer da von Verzicht reden will, hat einfach nicht verstanden, was die Uhr geschlagen hat, um den Unwetter-Kreisel wieder zu beruhigen.
Sonst werden bald schon die Bilder aus dem Ahrtal – schon vergessen? – getoppt werden von solchen in Alpentälern, von Bergrutschen verschüttet, von trocken gelegten Auenlandschaften, in denen das Vieh ersäuft, und von überlaufenden Staudämmen und noch übleren Bränden in Brandenburg.