02 Mai

Europa – Meditation # 448

         "Dies ist der Krieg um den Fortbestand der Europäischen Union" (Macron)

Ein Präsident und ein Kanzler wetteifern um das bessere Narrativ für Europa – aber nicht nur ihr Stil, auch ihr Gesamtbild unterscheiden sich nicht unerheblich von einander:

Auf der einen Seite eine eindringliche Angstvision, auf der anderen ein wortkarges Beharren auf der Nibelungentreue zu dem großen Bruder von Übersee. Und gleichzeitig sind beide indirekt eingebunden in das Kriegsgeschehen in der Ukraine und in Palästina.
Beide wollen sich dabei als euphorische Europäer profilieren und strapazieren den Mythos von Europa genauso wie den der EU, der ja gar keiner ist, sondern lediglich ein komplexer Staatenbund,
der in der Wahrnehmung der vielen europäischen Völker Unsummen in bürokratischen Pyramiden versenkt, deren gewählte Vertreter weitab von ihrem jeweiligen Heimatland Sitzungsgelder kassieren für die Vergabe von Subventionen, die entweder irgendwo versanden oder nicht ausreichen. Schlechte Stimmung also an der Basis, schlechte Nachrichten von den Fronten, schlechte Nachrichten von den Wirtschaftsweisen.
Rückblickend hat sich der Kontinent „Europa“ seit den großen Kriegen im Schlepptau der Sieger nach und nach zwar weiter als Zivilisationsraum sicherer und wohlhabender gemacht, blieb aber lange unter der kurzen Leine der Bevormundung ideologisch wie ökonomisch abhängig. Auch das soziale Gefälle blieb konstant, wenn auch solider möbliert – trotz Autobahnen, Flughäfen, Krankenhäusern und Schulen, um nur einige zentralen Bereiche zu erwähnen, die das Selbstverständnis der Menschen in diesem „Europa“ nachhaltig prägen. Mobilität, die sozialen Medien und Dienstleistungen lassen die Wirklichkeit erscheinen, als sei sie ein Selbstbedienungsladen, in dem die Kosten vom Staat zu tragen sind, während das Vergnügen – panem et circenses – jedem, der Lust hat, fast grenzenlos zur Verfügung steht. Fast achtzig Jahre leben die Europäer nun schon in äußerem Frieden untereinander, während um sie herum die Brände näher und näher kommen. In Kneipen und zuhause vor dem
Fernseher erzählt man sich die Geschichten so, dass sie als Erfolg erscheinen. Von einem selbst, aber auch von der Nation. In Sonntagsreden fabuliert man vom Zusammenwachsen, was lange getrennt war, vom Ankommen, vom erfolgreichen Verändern. Übersehen wird dabei allzu oft, dass im Zeitalter des Kalten Krieges nicht nur das große Schweigen angesagt war – hüben wie drüben – sondern auch das ideologische Feindbild nachhaltig gepflegt wurde. Unter der Hand bereicherten sich unterdessen die Großen weiter – in Übersee als „gelungener Übergang von Kriegswirtschaft zu Friedenswirtschaft“ und in Mitteleuropa als „Wirtschaftswunder“. Wieder ein Narrativ, das zu blenden versteht.
So folgte auf das langlebige Zeitalter der europäischen Religionen mit seinen eigenen Kriegen und Massakern, das des Geldes, der neuen Religion, die nicht nur die WASPs in ihrem Besitzstand seit der Amerikanischen
Revolution sakrosankt abschirmte, sondern auch die alten Besitzstände in Europa aus den Trümmern neu erblühen ließ.
Wenn nun Macron in seiner zweiten Sorbonne-Rede sinngemäß orakelt, „entweder zwingen die Europäer und die USA den zwei Kriegen endlich ihren Willen auf – oder sie versagen. Dann werden die Kriege
ihr Zerstörungswerk vollenden“, und so lautstark die Angstkeule schwingt, unterstellt er – ähnlich wie der Kanzler in seiner „Besonneheitsgeste“ – ein Zusammenwachsen Europas nach 1945, das nur wirtschaftlich zu Buche schlägt, nicht aber im Wirklichkeits-Wissen. Das Eis des Kalten Krieges wird seit 1989 zwar als abtauend angesehen, doch was darunter freigelegt wird, sind wieder hegemoniale Muster, die im Gewand von Freiheit und Demokratie ihre Berechtigung gar nicht mehr erbringen müssen, weil sie ideologisch so positiv besetzt sind, dass die darunter wirkenden Zwänge und Ungerechtigkeiten gar nicht mehr als solche erlebt werden. Der bürokratische Dino EU biedert sich weiter an als Einigungskraft, schafft es aber nur, mittels Subventionen die unterschiedlichen Ausgangslagen in den europäischen Einzelstaaten halbwegs still zu stellen. Der Brexit hätte da auch dem letzten „EU-Fan“ deutlich machen müssen, wie dünn das Eis ist, auf dem das Europa-Narrativ inszeniert wird. Genauso wie der Balkan-Krieg. Die Gewaltbereitschaft lauert fast hinter jeder Tür. Wie leicht waren die Deutschen zu neuer Rüstung zu überreden, wie leichtfertig stimmen sie so stumm der Umverteilung in den boomenden Rüstungssektor zu!
Wankelmütig und jederzeit bestechlich, das ist der moderne Bürger, der den Glauben an Besitz und steigende Aktienkurse in sich füttert wie ein unschuldiges Lämmlein, was er ganz und gar nicht ist. Betrügen, tarnen, täuschen und den Konkurrenten zu Fall bringen, so lauten die Grundregeln in diesem Freiheitspark individueller Bereicherungsphantasien. Das beste Beispiel dafür wird ja geradezu ausufernd täglich medial aus Übersee kostenlos „gemailt“ – das gelbe Trampeltier von Manahatta.
Demgegenüber scheint ein Statement von Canetti geradezu naiv: „Europa könne nur existieren, wenn viele kleine Kulturen und Entitäten zusammenleben und sich tolerieren.“ Aber es trifft dennoch mitten ins Herz. Denn nur in überschaubaren Gemeinschaften und vertrauten Umgebungen ist der homo sapiens sapiens bereit zu teilen: Seine Erfahrungen, seine Ängste, seine Pläne, seine Sorgen und seine Gewinne, weil er die Schieflagen hinter dem Geld-Spiel durchschaut und weiß, dass er morgen schon auf der Verliererseite stehen könnte.
Und in diesen kleinen Kulturen kann er dann auch – ganz und gar nicht digital – Gesang, Tanz, Musik, Theater und die Chöre, die gelebte Gemeinschaft lustvoll inszenieren, einfach so. (Herder und Schiller lassen schön grüßen!) Es ist also die lokale Vielfalt, die begeistert und zum Mitmachen animiert und nicht die Uniformität der kitschig-bunten Werbe-spot-Versprechungen, denen er blindlings folgen soll, ihn aber doch immer mit leeren Händen und fadem Geschmack zurücklässt, wenn er mit gestylten Tüten die schrillen Passagen verlässt – Lügenfassaden, hinter denen die großen „Player“ (wie treffend ist doch dieser Begriff!) ihre Gewinne explodieren lassen.

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