Der Turmbau im Silicium-Tal (Teil 2)
Jeder in seiner Blase, jeder will sich als „Sieger“ sehen – nach dieser Europa-Wahl, blitzschnell kommen die Zahlen auf den Bildschirm. Sie spiegeln den Europäern ihre Gedanken wider, als wären es in Stein gemeißelte Botschaften. „Hochrechnungen“ – ein Hoch auf das Rechnen, es gibt so ein gutes Gefühl von Klarheit, Sicherheit, Wahrheit, ja sogar Schönheit! Scheinbar. Aber die Zahlen haben keine Sprache, sie sind furchtbar stumm und kalt!
Gleichzeitig erwärmt sich die Atmosphäre mehr und mehr, Starkregen, Stürme, Überschwemmungen, Waldbrände liegen längst in der globalen Berichterstattung weit vorne, und die Adressaten gewöhnen sich an solche Meldungen, als wären es die letzten Sportergebnisse. Und wieder baut der homo sapiens weiter an seinem Silicium-Turm, schmückt die blendende Fassade mit graphischen Darstellungen – Kurven, Vektoren, die alle möglichst nach oben weisen – und genehmigt sich den nächsten „energy-drink“. Gleichzeitig rückt er mehr und mehr ab von dem, was ist und von dem er selbst ein Teil ist: der Natur. Wie mit Lego-Steinen baut er in Tag- und Nachtschichten an „seiner Welt“ (als wäre er endlich der Besitzer der Welt/“macht euch die Erde untertan!“), die ihm nur als solche erscheint, wenn er mit vollen Tüten aus einer Glitzer-Passage tritt oder bräsig im Sessel irgendeine austauschbare „late-night-show“ zu inhalieren versucht.
Man muss wirklich kein Sterndeuter sein, wenn man das „Veloziferische“ – das größte Unheil unserer Zeit (Goethe) – als Vegetieren von der Hand in den Mund bezeichnet: So gehen alle Nährstoffe nur in den anschwellenden Bauch; das Gehirn aber bleibt sträflich unterversorgt, leidet nicht nur an Sauerstoffmangel, sondern auch an profunden Grundstoffen, um sich doch noch als selbstständig denkender Mensch wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Schlamassel zu ziehen. Zu schnell huschen die materiellen genauso wie die intellektuellen Angebote am gierigen Auge vorbei. Leichtfertig delegiert der Europäer immer mehr Not wendende Arbeit an Apparate, die keine moralischen Bedenken kennen, die nur das nach oben lassen, was am häufigsten angeklickt wird. So kommt dem Freizeit-Hengst zunehmend der Unterschied zwischen Qualität und Quantität abhanden.
Dabei hat es in der Geschichte der Menschheit schon immer die beharrlichen Rufer in der Wüste gegeben, die dem Flüchtling Mensch seine Angst austreiben wollten. Statt mutig zu rufen: „Komm mit, Angst!“, trampelt er auf ihr herum, als wäre es Unrat, Schrott, Rost, eben etwas Unmenschliches. Wie sagte schon der uralte Aristoteles: „Wer seine Ängste überwunden hat, ist wirklich frei.“ Und überwunden heißt jedoch alles andere als tot getrampelt.
Und während dieser Text erfunden wird, wächst gleichzeitig nicht nur der Giftturm an Silicium – wie auch der Berg an weiter strahlenden Uranstäben, die wir lagern wie all den anderen Müll – sondern auch der Müll in den Bergen und auf den riesigen Halden in Afrika und Asien wird mehr und mehr. Für all das haben wir das harmlose Wörtchen „Entsorgung“ erfunden, mit dem wir schamhaft unsere Ratlosigkeit und Sturheit bemänteln. Der Begriff „Entsorgung“ nimmt uns gewissermaßen die Sorge, uns über die eigenen Überforderungen ordentlich Sorgen machen zu müssen Denn für alles gibt es eine „Lösung“ – so auch für die die rasant wachsende Zahl (!) an internet-süchtigen Jugendlichen: längst bauen wir fleißig an neuen Kliniken (natürlich in anspruchsvollstem Design und natürlich voll digitalisiert, auf allen Ebenen!), in denen solche Kranken dem Blick der Öffentlichkeit entzogen werden können. Da schließt sich dann der Kreis – oder sollte man bessere sagen: stürzt die heißlaufende Spirale torkelnd in ihre eigenen Windungen hinab, ins Inferno, wie in Dantes „göttlicher Komödie“ ( es ist wahrlich zum Totlachen!). Und wenn wir schon die „Alten“ bemühen, dann darf natürlich neben Dante und Aristoteles auch Sophokles nicht fehlen, von dem das geflügelte und leichtfertig allzu oft zitierte Wort/Werbegag stammt:
„Ungeheuer ist viel – aber nichts ungeheurer als der Mensch“. Keine Angst?
Was wäre der homo sapiens ohne den Superlativ? Ein Hanswurst, ein Wurm, ein Staubkorn. Ein nichts.