Europa – Meditation 6
Europa – Meditation 6
War es nicht ein geiler Gott, der gewaltsam Europa entführte und aufs Kreuz legte? War es nicht ein großes Bild vom mythischen Ursprung eines ganzen Erdteils? Oder hatte etwa jemand die eigentliche Erzählung kassiert, um sie in pralleren Farben und grelleren Tönen eindrucksvoller erscheinen zu lassen?
Im Alten Testament ist der unsichtbare, eifersüchtige Gott ein strenger und oft strafender, sagen die Propheten. Die Feinde Israels oder auch die Israeliten selbst bekommen seinen Zorn oft zu spüren. Er ist mächtig kompromisslos. Gewaltig sind seine Antworten auf die Verfehlungen der sündigen Menschen, so jedenfalls steht es in den Büchern, die von alten Männern den Schreibern diktiert werden. Voller Angst unterwerfen sich die Menschen Gottes Geboten, flehen um Gnade. Sintflut, Feuer und Seuchen schickt er über die Erde. Er lässt sie viele Kriege führen, unterwirft sie zahllosen Prüfungen, vernichtet ihre Feinde oder schickt sie selbst in eine vernichtende Niederlage. Krieg, Gewalt, Angst und Schrecken immer wieder. So wie König Herodes, der alle erstgeborenen Söhne töten lässt, um den zu vernichten, der der Erlöser sein soll. Kleine Kinder werden den verzweifelten Müttern aus den Armen gerissen. Die Häscher aber kennen keine Gnade. In den Gassen das Geschrei der Eltern und Verwandten, tagelang. Eine blutige Spur führt durch das Land. So ist es im Buch der Bücher, dem Alten Testament zu lesen.
Im fernen Pakistan weinen jetzt auch sehr viele Familien um ihre gewaltsam getöteten Kinder. Groß sind Trauer, Zorn, Wut und das Geschrei nach blutiger Rache. Sie wird nicht lange auf sich warten lassen. Und wieder wird ein Gott bemüht, der keine Gnade kennt all denen gegenüber, die nicht rechtgläubig sein wollen. Dieser Gott habe seinen Gläubigen das Schwert gegeben, so sagen sie. Sie erfüllen nur seinen Auftrag. So stehe es geschrieben. Wieder ist es ein strenger und strafender Gott, der die Gotteskrieger antreibt, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen. Sie tun nur, was er ihnen aufträgt. So steht es im heiligen Buch, dem Koran, und heftig streiten die Schriftenausleger um die Deutung.
Dann kommt dieser völlig andere Gott in die Welt, so jedenfalls steht es im Neuen Testament. Der schwört aller Gewalt ab und stellt eine neue Botschaft dagegen: die Liebe deines Nächsten. Seine Jünger schreiben es auf, es wird der zweite Teil des Buches der Bücher, das Neue Testament. Auch hier streiten unversöhnlich die Ausleger der Texte und Offenbarungen um die Wahrheit, wie sie sagen. Ist er nun Gott oder ist er nun Mensch oder ist er beides? Ein Konzil alter Männer entscheidet mehrheitlich, was geglaubt werden soll. Vor allem die Sklaven, Armen und einfachen Soldaten fühlen sich wie befreit durch diesen Glauben. Wenn nicht hier, dann auf jeden Fall im Jenseits würden sie reich belohnt werden, wenn sie dieser neuen Botschaft Folge leisten. Und sie tun es. Und wer weiter der falschen Auslegung folgt, wird gnadenlos verfolgt. Ach, wie die armen Falsch-Gläubigen damals hießen? Arianer, so hießen sie.
Aber Gewalt und Schrecken verschwinden nicht aus der Welt. Nein. Im Gegenteil. Bald schon fühlt sich wieder jemand berufen, das Sprachrohr dieses Gottes zu sein, der erneut bedingungslose Gefolgschaft seiner Gläubigen fordert und ihnen den Auftrag gibt, die Ungläubigen – notfalls mit Gewalt – zu bekehren. Auch er lässt alles aufschreiben, was ihm im Traum insgeheim offenbart worden war. Seine reiche Frau hatte ihn ermutigt, es aufzuschreiben. Wie eine mächtige Flutwelle wird dieser neue Glaube die Meere durchpflügen und an ihren Ufern alles wegspülen, was sich dieser Gewalt widersetzt. Heilige Kriege werden ausgerufen. Fanatisch kämpfen die Gläubigen des einen Gottes gegen die des anderen Gottes, man kennt keine Gnade. „Gott ist mit euch!“, so schallt es auf beiden Seiten. Später führen sie auch blutige Kriege gegen scheinbare Besserwisser, Abweichler, aber auch gegen die, die auf anderen Erdteilen leben und ganz anderen Göttern dienen und die sie nun bekehren wollen zu ihrem Gott. Wieder Gewalt gegen Frauen, Kinder, Alte, Fremde, wieder im Namen dieses Gottes, der doch aller Gewalt abgeschworen hatte, so jedenfalls soll es Gottessohn gepredigt haben. Die Treuhänder dieser Offenbarungen segnen die Schwerter, Äxte, Schiffe und Kanonen, damit sich die gewaltbereiten Menschen als Vollstrecker eben dieser Offenbarungen wähnen dürfen.
Das Kind in der Krippe soll daran erinnern. Ist das nicht unglaublich?