Europa – Meditation # 7
Sommermärchen war gestern, Wintermärchen ist heute.
So könnte man es sehen. Vielleicht. Was hat man sich damals gefreut, abends 2006 mit wildfremden Menschen zusammenzustehen, zu lachen, zu fachsimpeln, zu trinken, ja sogar zu tanzen und zu singen. Das hatte man sich davor überhaupt nicht vorstellen können, dass der sogenannte Durchschnittsdeutsche bei einer solchen Herzensangelegenheit mit Fremden gemeinsame Sache macht. Das nun wirklich nicht. Und dann ist es doch passiert. Und nicht nur einmal, nein, es wurde glatt eine kleine Gewohnheit daraus, man sah sich wieder, grüßte sich, jetzt schon richtig freundlich, Sprachprobleme waren plötzlich überhaupt kein Problem mehr. Man verständigte sich mehr über die Gefühlsschiene, und die ist ja sowieso nie eindeutig in Worte zu fassen. Man war sogar ein bisschen traurig, als es vorbei war – nein, nicht nur wegen der Niederlage, nein, sondern auch – oder vielleicht sogar deswegen besonders – wegen der guten Abendstimmung, da hätte man sich glatt dran gewöhnen können. Und rückblickend wird daraus sowieso noch ein viel rosigeres Bild, ist doch klar. War einfach klasse, die gemeinsame Sache.
Gut, es ging nur um Fußball, aber immerhin, das war ein vielversprechender Anfang. 2010 und 2014 wurde einfach weiter geübt und weiter gelacht und getrunken und getanzt. Nicht nur die Mannschaft war völlig inhomogen, nein, auch jedes Treffen draußen auf dem Marktplatz oder wo auch immer war so bunt gemischt, dass es eine reine Freude war. Tja, jetzt aber geht es ums Eingemachte, jetzt mitten im lauen Winter 2015 im alten Europa. Und es ist ja beinahe nicht zu fassen, da entsteht wieder so etwas wie ein Märchen, ein Wintermärchen sozusagen. Zum Thema Märchen später noch ein paar Anmerkungen. Jetzt aber erst mal zu den derzeitigen Winterspaziergängen in verschiedenen europäischen Städten, meistens abends, manchmal aber auch am helllichten Wintertag. Was ist da nur in die Leute gefahren? Es ist kalt, es regnet, es stürmt, jedenfalls alles andere als gemütlich. Warum bleiben die Leute, diese sehr verschieden bunt gemischten Gruppen denn nicht einfach zu Hause, vor dem Fernseher oder vor ihrer sonstigen elektronischen Ausstattung? Da wäre es zumindest wärmer, trockener und auch stiller. Was sind das denn für Europäer? Könnte es sein, dass sie keine Lust mehr haben auf das vereinzelte Konkurrenzleben zu Hause, an der Tankstelle, in der Einkaufsmeile oder in ähnlichen kalten Menschenansammlungen, wo man mit seinem Poker-face zeigen muss, was man so drauf hat, finanziell und als Power-Individuum, das sowas von unverwechselbar einmalig daherzukommen hat, dass den neidisch mit schnellem Blick daran vorbeiwitschenden Restmenschen der Atem stockt? Sprachlos natürlich – die Sachen, die man anhat oder die man bei sich hat oder mit denen man sich lässigst fortbewegt, sagen doch alles. Warum noch kommentieren? Die hoffentlich neidischen Blicke der anderen sind Siegkommentar genug, oder? Könnte es sein, dass in denen die große Angst umging, ob man nicht auf dem völlig falschen Dampfer angeheuert habe? Könnte es nicht sein, dass sich in denen die große Sehnsucht nach wirklichem Leben mit wirklichen Menschen
ungestüm zu Wort meldet, weil man mal wieder darüber reden sollte, was eigentlich Sache ist. Was ein sinnvolles Leben sein könnte, was angesichts der nicht zu übersehenden Sterblichkeit aller in der verbleibenden Zeit denn nun lohnend sein könnte zu leben! Und da liegt es sicher nahe, zuerst einmal darüber zu reden, wo man denn eigentlich herkommt. Aus welcher Familiengeschichte, aus welcher Landesgeschichte, aus welcher großen Geschichte. Da ist Europa nun in aller Munde. In vielen Sprachen, in prallen Bildern und strahlenden Begriffen. Klar. Da kommen wir her. Nun wird heftig durcheinander geredet, jeder weiß es besser, manche wollen gar nicht mit sich reden lassen, manche reden überhaupt zum ersten Mal bewusst darüber. Ist doch gut so. Besserwisser werden schnell langweilig, werden bald übertönt von hartnäckigen Fragern, von sehnsüchtigen Freiheitsliebhabern und Rechtsstaatsfans. Gut so. Das wird sicher dauern, bis aus diesem chorischen Durcheinander ein für alle tragfähiger basso continuo, ein wohltuender Ohrwurm werden kann. Aber so ist es doch mit allen Dingen, die einem wichtig sind: Die fallen eben nicht einfach mal so vom Himmel, die sind eben nicht schnell einfach dahingesagt, das braucht einfach Zeit. Aber es ist ein toller Anfang. Voll mit Gefühl und voll mit Elan und zusammen mit den anderen. Wäre doch gelacht, Europa!