Europa – Meditation # 9
Der Anfang der Wende zum Besseren?
…könnte es sein, dass die nicht ganz unrecht haben, die immer wieder sagen, es müsse wohl erst etwas Schlimmes geschehen, bevor sich die Menschen entschließen, innezuhalten, nachzudenken und dann einen neuen Versuch unter neuen Vorzeichen zu unternehmen?
Wenn das halbwegs zutrifft, dann ist das Schlimme, das Anfang Januar 2015 in Paris geschah, vielleicht auch so ein Moment im schnelllebigen Alltag der globalisierten Welt (von all dem Schlimmen, was gleichzeitig an anderen Orten der Welt geschah, kann gleichzeitig hier nicht die Rede sein. Dieser Ort jedenfalls hört auf den Namen Europa.). Als hätten sich die Bürger verabredet, so tauchen sie auf einmal auf den öffentlichen Plätzen auf – weder Parteien noch Gewerkschaften hatten sie dazu aufgerufen – und mischen scheinbar vertraute Themen völlig neu auf. So als wollten sie zuerst einmal ins Unreine reden und mit- und gegeneinander diskutieren. Jedenfalls erwischen sie dabei die etablierten Parteien und bekannten Medien fast durchweg auf dem falschen Fuß. Da entgleitet die Definition des sogenannten Main-Streams den „Verwaltern“ desselben aus der Feder, den täglichen Bulletins der demokratischen Repräsentanten des Volkes. Was für ein Schauspiel. Impro life!
Der öffentliche Raum wird als gemeinsames Zentrum der P o l i s wieder entdeckt! Als Marktplatz der Meinungsvielfalt, des Austausches, der Pointierung brisanter Themen. Der Bürger wartet nicht mehr auf die Veröffentlichungen, die am Morgen zu lesen sind; er kommt lieber abends gleich selbst zur Sache. Erlebt sich endlich mal wieder als Teil einer größeren Gruppe von Gleichgesinnten, die auch keine Lust mehr haben auf leerlaufendes Gemäkel, auf Genöhle innerhalb der eigenen vier Wände.
Neulich erst konnte man wieder lesen, dass sich die Gewohnheiten der Bürger sehr gewandelt hätten: Er gehe nicht mehr aus, abends seien die kleineren Städte wie leer gefegt, die Kneipen verödeten, keiner stehe mit anderen mehr am Tresen, diskutiere aktuelle Fragen…
Und nun das: Zu Tausenden gleich kreuzen sie einfach so in den Innenstädten auf, reden plötzlich wieder miteinander – und nicht in talk-shows oder politischen Tele-formaten – werden tatsächlich aus passiven Zuhörern zu aktiven Diskutanden, die wohl die Nase voll haben, immer von anderen gesagt zu bekommen – natürlich statistisch massivst belegt – was Sache ist mit Zuwanderung, Sprachkompetenz, Bildungsschieflage seit Jahrzehnten jetzt schon und mit der Rolle der Religion in einem demokratischen Gemeinwesen. Und kommen doch tatsächlich wieder. Gewöhnen sich gerne an das neue Ritual – die leider schon zu ferner Geschichte gefrorenen Sommermärchen scheinen das erfolgreich erprobte Format zu sein – einiges läuft da jetzt wie zu einem warmen Strom zusammen, das bisher in mickrigen Rinnsalen vor sich hin getröpfelt war: Wie aus heiterem Himmel geht es auch der Politik-Verdrossenheit an der Kragen, das Gemauschel hinter verschlossenen Türen der politischen Parteien reicht nun endgültig. Fast siebzig Jahre „Re- education“ in Sachen Demokratie mit Hilfe der Parteien (und nicht zu vergessen mit Hilfe unserer Freunde von jenseits des Atlantiks!) haben scheinbar unbemerkt den Bürger so selbstbewusst werden lassen und so unzufrieden mit den Machern des Demokratie-Spiels, dass er sich darauf besinnt, wie viel direkter das Interessen-Ausgleich-Spiel vom Bürger selbst gespielt werden könnte.
Deshalb zum Schluss die unbescheidene Frage an das Establishment: Wäre es nicht ratsamer, die Bewohner der Polis ihren Marktplatz gerne selber zum politischen Disput nutzen zu lassen, als sie wieder gleich in fertige Begriffspakete zu packen und nach Hause zurückzupfeifen? Was könnte da nicht alles an neuer Teilhabe und Zustimmung zur Demokratie wachsen und gedeihen?