Europa – Meditation Nr. 487

Tumult im Chaos der Bildervorräte.
Die Bildungsbürger zeigen in diesen Tag mal so richtig, was sie drauf haben: Im TV-Palaver werfen sie sich die Assoziationen nur so um die Ohren. Fast jeder Satz beginnt mit dem „Intro“ : „Nein, ich bin mir ganz sicher“ – oder – „Ich glaube felsenfest“ – oder – „Meiner Meinung nach ohne Zweifel“…Und fleißig werden die amerikanischen Sprechblasen wie Ping-pong-Bälle hin und her gepustest. Man ist sich in seinen Einschätzungen sehr sicher, wohin der turbulente Flug gehen wird:
Die Jonglage beginnt natürlich mit den üblichen Verdächtigen: China und Russland und natürlich die USA und Europa. Obwohl im schrillen Streichquartett längst auch andere Bälle den Akteuren quer durchs Bild sausen: Indien, Brasilien, Nigeria, Südafrika…
Und ob des großen Tumults suchen die Teilnehmer der Debatte „Was tun angesichts des unanständigen Ausscherens des großen Bruders aus dem so gerne geglaubten festen Bündnisses? Was tun?
a) Ruhe bewahren, nach-denken, durchatmen…
b) Sich auf die eigenen Stärken besinnen, zusammenstehen…
c) Gemeinsame Werte beschwören und nur ja keine Angst machen…
Selbstverständlich dürfen große Namen dabei nicht fehlen: ein gewisser Chamberlain, der sogenannte „Apeasement-Man“, und der Fels in der historischen Brandung, ein gewisser Churchill, der auch unangenehme Botschaften mutig zu verkünden wusste.
Die Europäer sollten nur aus der Position der Stärke heraus dem Aggressor gegenüber treten, jedes Zugeständnis im vorhinein sei grob fahrlässig und gewissermaßen völlig unprofessionell. Sich selbst hält man selbstverständlich für einen Profi, der nach kritischer Güterabwägung zu scheinbar klaren Schlussfolgerungen kommt.
Währenddessen schaffen die Libertären Tag für Tag neue Fakten, vorbei an stabil geglaubten Verfassungsrahmenbedingungen. Stabil? Weit gefehlt. Man könnte tatsächlich das Jahr 1933 und die neuen Gesetze damals heranziehen, um einen „ähnlichen Fall“ zu beschreiben wie gerade in Washington.
Als wäre die Geschichte ein gut verpacktes Bündel an sicheren Feststellungen, obwohl sie doch auch nur immer wieder neu verschnürte Momentaufnahmen der Zeitgenossen sind, deren Verfallsdaten schon beim Druck verfallen sind.
Aber wie müßig ist das denn? Das Chaos der Wirklichkeit schafft im Lauf der Zeit von Augenblick zu Augenblick neue Moment-Konstellationen, die schon erledigt sind, wenn wir sie wortreich zu deuten versuchen. Aber trotzig wollen die Experten dem jeweiligen Augenblick Dauer verleihen. Frau Miosga kann vor lauter höflichem Lächeln gar nicht all die schillernden Wortgirlanden à la Rüttgers zu einem stimmigen Blumenstrauß binden, denn der Ukraine helfen eben keine Worte, keine Beschwörungsformeln, keine Allgemeinplätze.
Viel Kompetenz loderte da in der Runde, man spielt sich im Tumult des Chaos höflich die Bälle zu, aber trotzdem kann keiner auch nur andeutungsweise richtig stellen, was heute in Paris, morgen in Washington und übermorgen in Moskau für ein Theaterstück aufgeführt werden wird. Neben Orangensaft und Croissants hilft auch kein Espresso aus der Ratlosigkeit heraus. Waren das doch herrliche Zeiten, als man gebetsmühlenartig die eigene Chaos-Deutung als stabil, wetterfest und zutreffend bereden konnte: „Das Westliche Bündnis, Die Nato, Die EU, das Demokratie-Modell der westlichen Welt, Wohlstand, Fortschritt…“ Und längst vergessen die für sicher erachteten Formeln der Jahrzehnte davor: „Ost-Westkonflikt, Antikommunismus, Atomares Patt, der Overkill-Effekt, das Nord-Atlantische Bündnis, die Bündnis-Treue…“ Wie rasant die Bildervorräte zu Ende gehen und blitzschnell durch neue ersetzt werden müssen. Wie atemlos, wie ratlos! Und dabei sitzt der species noch ein viel größerer Gegner im Nacken: die Natur, deren Teil er ja ist, was er aber unterwegs vergessen wollte/hatte. Der homo sapiens sapiens hielt sich tatsächlich für den Mentor der Natur.
Wie sagten doch schon die alten Griechen: Hochmut kommt vor dem Fall!