Europa – Meditation Nr. 489

Die Gleichzeitigkeit der vielen Zeitzonen im kurzen Leben des homo sapiens.
Die Zellen des Organismus haben ihre eigene Zeit: lautlos und fast nicht wahrnehmbar gestalten sie im Jetzt ihre endlos andauernden Veränderungen – zwischen Geburt und Tod. Ähnliche Abläufe, doch immer unverwechselbar einzigartig. Mit Hilfe erbärmlicher Tricks – wie Facelifting, viel Farbe und vielen Krafttrainingsgeräten – versucht die spezies über das Unausweichliche hinwegzutäuschen: einfach die Schlagzahl erhöhen, dann lässt sich scheinbar die Zeit links und rechts überholen und gewinnt so Zeit gegen die verfließende Zeit. Veränderungen liegen somit gewissermaßen in der Verfügungsgewalt des sich dennoch weiter Verändernden. Dem bloßen Hinnehmen des Alterns stellen wir ein aktives Gestalten der eigenen Gestalt gegenüber, die dem Traum vom Anhalten der Zeit näher und näher zu kommen scheint.
Und um nicht auf Selbstzweifel und Verzagtheit zu verfallen, erfindet sich der homo sapiens ein immer wirkungsvoller die Zeit außer Kraft setzendes Ablenkungsprogramm, das es ihm ermöglicht, je länger, je mehr dem flüchtigen Augenblick so etwas wie Dauer zu verleihen. Lieblingswort: Dauerschleife. Die einzigen Störfaktoren in diesem running gag sind Krankheit und Erschöpfungszustände. Aber auch die können überbrückt werden mit der immer gleichen Methode: Ablenkung, traumloser Schlaf und gesunde Ernährung. Das regeneriert den Organismus nachhaltig, glaubt dann der homo sapiens.
Aber weitere Störungen melden sich hartnäckig zu Wort: Anfälle von Einsamkeit malrätieren den nach vorne stürmenden Blindgänger, ein overkill an Botschaften überschwemmt den eitlen und neugierigen Zeitgenossen, Lärm und schlechte Luft drangsalieren den flüchtenden Dauerläufer. Aber es will einfach nicht aufhören, das Gerenne, das Gequatsche, das Getue, das Gemeckere. Als würden Goldmedaillen verteilt für den überzeugendsten „Schlechte-Laune-Propheten“. Nur nicht angepasst sein, nur nicht mitlaufen, nur nicht Durchschnitt oder gar „normalo „ sein! Am besten gleich wieder shoppen gehen, Kurzurlaub buchen, zocken, kiffen, cracken, Staffeln glotzen.
Gleichzeitig zieht die Klimakrise weiter ihre Kreise zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Verbrennermotoren bespielen ihre Halter mit sonoren Klängen, während gleichzeitig Plastik zum festen Partikel-Bestandteil der Meere wird, aus dem einst das Leben an Land kroch.
Gleichzeitig wird die wärmende Sonnenstrahlung mehr und mehr zum zusätzlichen vorzeitig Vernichter der species – home-made, versteht sich.
Statt die eigene Abhängigkeit von den Mitmenschen als Chance und Gegengift zur mörderischen Individualismusspirale zu begreifen und so gleichzeitig der eigenen Veränderung in der Zeit solidarisch in Familie, Freundschaft und guter Nachbarschaft zu begegnen, beschleunigt das hilfsbedürftige Einzelwesen seine Fluchtkonditionierung hin zu immer schnelleren und besinnungsloseren Ablenkungsmanövern.
So wächst gleichzeitig die antrainierte Fremdheit mit dem eigenen Organismus ins schier Uferlose und kann so auch nicht mehr als das erlebt werden, was sie ist: trotziges Totschweigen des selbst inszenierten Sackgassen-Wettrennens, das individuell immer mit dem eigenen Tod endet.
Dennoch existieren wir weiter als verwandte Wesen, die auf die familiäre Hilfe von Anfang bis Ende angewiesen bleiben, so aber dieses belebende Erleben sich verweigern, was sie im Grunde ausmacht: Nähe, Wärme, Schutz, Hilfe annehmen und Hilfe geben. Schwäche, Bedürftigkeit, ein Mangelwesen eben.