Europa – Meditation Nr. 497

Europa, die weitsichtige.
Was für ein Beiwort: weitsichtig! Europa und weitsichtig? Wenn man das neue Buch von Joschka Fischer „Die Kriege der Gegenwart und der Beginn einer neuen Weltordnung“ liest, dann hat Europa das sich anbahnende Chaos (als wenn vorher Ordnung das Weltgeschehen bestimmt hätte!) gründlich und gerne verschlafen, weil es so angenehm war, sich vom großen Bruder beschützen zu lassen, dessen Lebensart man gleich in traumwandlerischer Selbstvergessenheit in eine pax Americana hoch jubelte. Von Weitsicht keine Spur! Es war sicher nicht unklug, sich als zerknirschter Verlierer dem scheinbar großherzigen Sieger unterwürfig anzudienen. Der konnte konziliant bald die Zügel lockern – mittels Persilscheine und üppigem Startkapital als Anschubhilfe. In den Geschichtsbüchern ist vom Marshall-Plan die Rede. Der eingefleischte autoritäre, patriarchalische Mitteleuropäer witterte im lockeren Gestus des Siegers eine ungeahnte Chance, die eigenen Eckdaten subkutan weiter bestehen zu lassen und oben drüber das Süßholz von der jungen Demokratie zu raspeln, um die eigenen Ungeheuerlichkeiten der verflossenen Jahre ordentlich zu kaschieren.
Wie ein Friedensfürst spielte sich der unwiderstehliche Dollarheld weltweit auf, als wäre er ein fairer Makler, ein beschwichtigender Polizist in lokalen Konflikten. Die Sprache lieferte die dazu gehörige Sahne, um die Gier nach Hegemonie und Bevormundung aussehen zu lassen, als wäre es Großzügigkeit und Großmut, die erfolgreich zu dominieren wüssten.
Schon der Beginn des demokratischen Modells in der Antike ist in der Überlieferung – selbstverständlich ausschließlich von Männern für Männer aufgeschrieben – Augenwischerei: Nur die Wohlhabenden Bürger hatten das Wahlrecht, Frauen, Fremde und Sklaven waren natürlich ausgeschlossen. Erfolgreiche Arbeitsteilung nennt man so etwas, aber Herrschaft des Volkes war es ganz bestimmt nicht – damals so wenig wie heute.
Die weitsichtige Europa! Hat sie denn wirklich vergessen, dass für ihren erzählerischen Anfang ein breit ausgewalzter Vergewaltigungsakt steht? Von Männern für Männern bildgewaltig aufgeschrieben! Gewalt ist also schon im Gründungsmythos Europas eingebrannt. Und die Demokratie, die in Athen und Sparta aus der Taufe gehoben wurde, war genau wie das Modell von 1787 ein Papier, das wortreich und begriffmächtig die Ungleichheit festschrieb, als wäre es die Charta für die Gleichheit und Freiheit aller Mitbürger. Aber sowohl nach innen wie nach außen gingen die Vertreter dieses Regierungssystems unerbittlich gegen Hinderer und Hindernisse vor. Damals wie heute.
Und die weitsichtige Europa zog es bis heute vor, das alles in einem langen Schlaf wegzuträumen. Und in leisen Selbstgesprächen schönzureden. Bis heute. Joschka Fischer, der in seinem Buch – ohne jeden Quellennachweis, ohne eine Bibliographie und fast ohne Zitate – noch einmal das große Lied der PAX Americana – vor allem vor dem Hintergrund der düsteren Wolken, die er heraufziehen sieht – singt und anpreist als hohes Gut, das es weiterzuerzählen gälte, scheint ähnlich wie die eigentlich doch weitsichtige Europa in einem Wachschlaf vor sich hin zu simmelieren.
Und nun scheint die verschlafene Europa gerade nicht von einem Prinzen wachgeküsst zu werden, sondern von einem veritablen Unhold. Zitternd schreckt sie hoch, reißt die Augen auf, die weitsichtigen, und scheint zu meinen: Falle ich gerade aus einem schönen Traum in einen bösen Albtraum?
Nein. Weder noch. Es ist an der Zeit, unverstellt nach vorne zu blicken, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen, mit siebenundzwanzig Helfern zur Seite, die lieben Verwandten. Sie alle müssen nun den wagemutigen Schritt in die Selbstständigkeit tun, die selbstverschuldete Unmündigkeit geht abrupt zu Ende, zum Glück. Denn das transatlantische Rumpelstilzchen ist gerade dabei, sich selbst zu zerreißen vor lauter Wut und Zorn auf eine Welt, die ihn einfach nicht als king of any deal anbeten will. Er macht es im Grunde der weitsichtigen Europa leicht, durchzublicken: Lug und Trug, Pokern und Zocken taugen nicht zum politischen Handeln.