Europa – Mythos # 35
Machtgier, Lügen und Zeus erneut als Verlierer?
Der Minos von Kreta hat wieder Platz genommen. Jetzt erhebt sich Sardonius. Chandaraissa weiß, dass er überall seine Lauscher hat. Was wollen die gehört haben? Europa, ihr gegenüber, rührt sich nicht. Als wäre sie gar nicht anwesend. Lautlos lässt sich jetzt auch die Hitze im Innenhof nieder. Sie nimmt auf niemanden Rücksicht.
„Im Wohlwollen des Minos von Kreta sind seine Bürger, Fischer und Landleute von jeher geschützt und gewachsen. Sie sind ihm deshalb treu ergeben. Nicht so…“
Hier macht der Herr der Hofhaltung, Abgaben und Sicherheit eine Pause. Eine lange Pause. Sein Blick geht dabei sehr langsam von der Hohenpriesterin zu Europa und wieder zurück. Mehrmals. Die alten Berater an der Seite von Archaikos wechseln düstere Blicke. Was wird da gleich gesagt werden? Was geht hier vor? Hässliche Bilder bevölkern dabei die Gedanken der missgünstigen Alten.
Zeus sieht es von seinem olympischen Adlerhorst nur zu deutlich. Er fühlt sich an diesem Morgen gut unterhalten von seinen Männern da unten. Er und seine beiden Brüder haben schon einiges bewirkt mit ihrem Schwur: Der Hass auf die Frauen trägt erste Früchte, wie es scheint. Hoffentlich halten sie auch durch, denkt er besorgt. Weiß er doch um die Stärke Europas. Er hat sie ja am eigenen Leib neulich erst erfahren. Und gleich melden sich Gänsehaut und Gier wieder vorlaut zu Wort. Da erlöst ihn Sardonius, der gerade fortfährt, aus seinem erneuten Schwindelgefühl:
„Nicht so die beiden Frauen, die hier angeklagt werden.“
Und wieder macht er eine Pause. Er genießt es, mehr zu wissen, als alle, die ihm hier zuhören. Wie sie ihn anstarren! Zwei Elstern fliegen lautlos über den Hof. Keiner scheint es zu bemerken. Nur Europa blickt kurz hinter ihnen her. Dabei streift ihr Blick auch ihre neue Freundin. Sie lächeln beide. Der Herr der Hofhaltung, Abgaben und Sicherheit kann es nicht fassen: Wie können die es wagen, jetzt auch noch zu lächeln? Wut steigt in ihm auf, als er jetzt schneller sprechend und lauter fortfährt:
„Zuverlässig ist uns zugetragen worden, dass die Hohepriesterin und die Fremde sich gemeinsam verabredet haben, den Minos von Kreta bei nächster Gelegenheit zu töten, zu vergiften, um sich selbst an seine Stelle zu setzen.“
Nur einen Augenblick lang spannt sich eine Wolke entsetzten Schweigens über den sonnenhellen Innenhof. Dann springen die Berater, als hätten sie sich vorher abgesprochen, lärmend auf und schreien durcheinander, während ihnen der Speichel aus dem Mund spritzt:
„Giftmischerinnen! Tod den widerlichen Weibern! Schlachtet sie ab, gleich und hier!“
Dabei wenden sie sich – scheinbar tief besorgt um das Wohl des Minos von Kreta – an Archaikos, werfen sich vor ihm auf die Knie, reißen die Arme hoch und jaulen, knurren, fluchen. Der aber schmunzelt gönnerhaft, bittet sie in einer großen Geste, wieder Platz zu nehmen, und wendet sich dann an Archaikos:
„Das ist wahrlich eine schlimme Anklage. Aber nach altem Brauch will ich die beiden erst befragen, bevor ich das nötige Urteil fällen werde.“
Zeus hatte inzwischen seinen beiden Brüdern gewunken, sich zu ihm und seiner Vogelperspektive zu gesellen. Nun machen die drei lange Hälse, große Augen und sich noch größere Hoffnungen. Lange würde die Strafe sicher nicht auf sich warten lassen. Das wäre ja auch noch schöner, wenn die beiden Frauen ungestraft davon kämen. Der Schwur der drei göttlichen Brüder wird zu einer starken Spur auf Erden werden. Da sind sie sich ganz sicher von da oben.
Chandaraissa ist plötzlich klar, was geschehen sein musste. Wenn sie schon auf dem Weg hierher von dunklen Gestalten als Giftmischerin beschimpft werden konnte, dann musste Sardonius dieses Gerücht vorher gestreut haben, dann war das Ganze geplant, sie und Europa zu vernichten. Einen Abgrund zwischen Archaikos und Europa zu erfinden, damit sie da hinein stürzte. Aber welche Beweise würde Sardonius vorbringen können? Wie erbärmlich doch dieser nichtige Anschlag geplant ist. Sie spürt, wie Unsicherheit und Angst weichen und ihr Selbstbewusstsein wieder Oberhand gewinnt. So freut sie sich sogar auf das Verhör, das ihr bevorsteht.