Europa – Mythos # 37
Der Minos von Kreta erweist sich als kluger Richter
Archaikos schaut nach dieser Zeugenaussage zuerst zu Chandaraissa, dann zu Europa, dann zu Sardonios. Das ist kein guter Zeuge, denkt er. Sardonios, wenn du mir schaden willst, musst du schon bessere Fallen stellen. So habe ich leichtes Spiel, aber ich werde es niemanden spüren lassen. Ich bin gewarnt und ich werde mich zu wehren wissen, werter Herr der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben. Deine Tage im Dienste des Minos von Kreta sind gezählt. Er nickt mehrmals, so, als wolle er sagen, dass damit der Fall klar sei. Dann bittet er die Angeklagte nach vorne. Die alten Ratsherren murren. Sie halten es nicht für nötig, diese böse Frau noch zu hören. Oben, an der Kante des Daches zum Innenhof tippeln die drei Krähen aufgeregt von einem Beinchen auf das andere, hüpfen flatternd hin und her, was unten die Teilnehmer des Gerichtsverfahrens unversehens ablenkt. Während alle verwirrt nach oben schauen, verständigen sich Chandaraissa und Europa kurz mit Blicken. Sie haben das willkürliche Tun des Hofes auch durchschaut, sie fühlen sich stark und zuversichtlich. Chandaraissa, die Hohepriesterin, erhebt sich, legt sich einen leichten blauen Schal um die nackten Schultern und tritt stolz vor den Richter.
„Nun“, beginnt Archaikos mit leiser Stimme, „was sagt ihr zu dem schwerwiegenden Vorwurf des Zeugen Nemetos?“
Sie muss nicht lange überlegen, denn sie fühlt sich warm umhüllt von den schützenden Händen der Göttin. Und die Blicke, die sie eben mit Europa wechseln konnte, machen sie nur noch ruhiger und zuversichtlicher.
„Als Hohepriesterin der großen Göttin ist mein oberstes Gebot, Menschen zu helfen und nicht, ihnen ein Leid zuzufügen. Darum könnte ich solch einen mörderischen Vorsatz auch gar nicht denken, geschweige denn ausführen!“
Chandaraissa neigt ihren Kopf, als wolle sie sich demütig vor Archaikos zeigen. Sie will aber nur Zeit gewinnen, sie muss sich nun eine Gegenrede zum Vorwurf ausdenken, die die Lüge der Zeugen offensichtlich machen kann. Da hört sie sich auch schon selber sprechen, sie findet die Lösung beim Sprechen:
„Hoher Herr, Minos von Kreta, bestellt als Schutzherr der Göttin und ihres großen Tempels, wie soll ein Mensch denn ein Gespräch auf diese Weise überhaupt mithören können. Macht die Probe und ihr werdet sehen, dass der Zeuge nicht die Wahrheit sagt, weil er das, was er vorgibt gehört zu haben, gar nicht hören konnte.“
Archaikos hatte genau den gleichen Gedanken auch schon erwogen. Sie baut ihm eine Brücke, über die er ohne Gesichtsverlust gehen kann. Das gefällt ihm. Auch ist er beeindruckt, wie stolz sie da vor ihm steht, ohne Angst, in ihrer ganzen Schönheit und mit strahlenden Augen und weichen Gesten beim Sprechen. Er wird auf ihren Vorschlag eingehen.
„Da es hier um Leben und Tod geht, muss ich Gewissheit haben. Deshalb werde ich mir selbst ein Bild von der Situation im Tempel machen. Wenn die Sonnengöttin ihr abendliches Bad nehmen wird, sehen wir uns alle erneut hier wieder.“
Sardonius spürt, dass seine Sache nicht gut läuft. Seine Späher sind Dummköpfe und Lügner. Er muss sehen, dass er ohne Schaden aus der Sache heraus kommt. Nemetos und Thortys sind für ihn in diesem Augenblick bereits gestorben. Aber sein Gesicht verrät nichts von seiner Wut, die jetzt in ihm tobt. Wie versteinert sitzt er da und schaut ins Leere. Die Ratsherren empfinden den Gang des Prozesses als sehr unbefriedigend. Natürlich sind die beiden Frauen schuldig, der Minos lässt sich von der Hohepriesterin verunsichern. Er ist kein guter Minos, schon sein Vater war ein schwacher Minos gewesen. Sie wittern ihre Stunde. Murmelnd und Kopf schüttelnd verlassen sie den Innenhof. Die Angeklagten werden abgeführt, die Zeugen fühlen sich in die Enge getrieben, spüren, dass es eng wird für sie; denn Sardonius würdigt sie keines Blickes. Das ist ein ganz schlechtes Zeichen. Die Belohnung, sie wollen die Belohnung unbedingt!
Längst ist die Mittagsglut auch in den Innenhof gefallen, schwitzend suchen alle Zuflucht in der Kühle der Palastgänge. Nur die Krähen sitzen weiter da oben und blinzeln auf den leeren Hof.