Europa – Mythos # 43
Der Minos von Kreta erhält ein betörendes Geschenk
Immer noch hat ein dunstig kühles Morgengrauen das Sagen, die Vögel beginnen gerade mit ihrer luftigen Morgengymnastik; auch ihre fröhlichen Stimmen wollen wieder geübt werden, und im Palast des Minos von Kreta huschen schon die ersten Helfer am Backofen und am Brunnen wie tanzende Schatten hin und her, als wäre Müde Sein nur etwas für Perlentaucher und Bogenschützen. Die riesige Doppelaxt oben über den Dächern scheint auch noch – von zahllosen matt schimmernden Tautropfen umrinnt – vor sich hin zu dämmern. Keine Ahnung von ihrer Macht scheint sie zu haben.
Nur im großen Tempel der großen Göttin herrscht geschäftigstes Treiben. Sarsa kichert, Belursi hüpft im Kreis, Europa knabbert an ihrer Unterlippe und Chandaraissa, die Hohepriesterin, dankt im Stillen ihrer Göttin: Aus heiterstem Himmel fiel völlig unvorhergesehen ihnen der Plan vor die Füße. Ein wunderbarer Plan. So prall gefüllt mit Lebensfreude, Ausgelassenheit und Friedfertigkeit.
Europa soll dem Minos eine rührende Geschichte ihrer grenzenlosen Dankbarkeit vorgaukeln. Sie seien ja so froh, dass er ein so weises Urteil gefällt habe; und sie möchten ihrer großen Dankbarkeit überschwänglich Ausdruck geben dürfen. Ein Fest möge er seinem Volk schenken, in dem die Frauen ihm zur Ehre einen Tanz zu Musik aufführen, den noch nie jemand gesehen und gehört hat. Und den sie allen jungen Mädchen in Zukunft als Übung der Freude und der Zuneigung lehren wollen. Hier im Tempel sollen sie ihren Unterricht erhalten und jedes Jahr soll dann dieser Tanz feierlich als Dankesfest vorgeführt werden – immer in Erinnerung an den weisen Richterspruch, der so viel Freude in die Herzen der Menschen pflanzte.
„Ja!“ ruft Belursi weiter tanzend und hüpfend und hält dabei den Saum ihres Kleides mit beiden Händen fest, „das ist eine Bitte, die der Minos nicht abschlagen kann.“ Ihre nackten Beine glänzen dabei matt im erwachenden Morgenlicht. Sarsa schließt sich ihren rhythmischen Schritten an, klatscht dabei jauchzend in die Hände. Jetzt springt sogar Europa in den Kreis, fasst die beiden jungen Priesterinnen an den Händen und plötzlich entsteht aus den ungeordneten Bewegungen eine elegante Tanzfigur, zur Mitte des kleinen Kreises hin und wieder zurück, den Kopf einmal wuchtig nach vorne schleudernd, Haarwolken fliegen wellenförmig durch die Luft, dann wieder die Köpfe nach hinten neigend, sodass die Haarpracht wie ein Schleier über die Rücken gleitet. Chandaraissa hat eine Flöte aufgehoben und spielt sphärische Töne, mal ganz leise, mal drängend lauter werdend, den tanzenden Frauen unsichtbare Girlanden der Freude und der Ausgelassenheit zu werfend.
Die Vögel, die sonst den Ton angeben über dem Tempel, fliegen verstört davon. So etwas haben sie noch nie gehört! Und die Frauen? Als sie schließlich ganz außer Atem mit den Tanzschritten aufhören, halten sie sich immer noch an Händen fest – als würden sie sonst in Ohnmacht fallen vor Begeisterung und Verblüffung. Die Hohepriesterin reißt die Augen auf, lässt die Flöte fallen und sieht vor ihrem geistigen Auge unversehens den fertigen Tanz:
„Die Kleider! Wir werden bunte, durchsichtige Tücher um unsere Körper binden, die Brüste von weißen Bändern festgehalten, und jeder wird bunte dünne Bänder an seinen Handgelenken haben, die wie die Farben des Regenbogens auf und nieder wehen werden beim Tanz; und nackte Füße.“
„Und die Lippen werden wir ganz schwarz anmalen und die Augen auch!“ fällt ihr Sarsa ins Wort. Belursi nickt begeistert und Europa flüstert verträumt hinzu:
„Der Minos wird vor Erregung kaum noch atmen können. Und all die anderen Männer auch. Wir werden sie verzaubern mit unserem reizvollen Tanz und dem wunderbaren Anblick der rhythmisch bunten Bewegungen, die sich immer wiederholen, steigern und wieder abebben, bis uns alle zu Füßen liegen!“