Europa – Mythos # 82
Wie Europa ungewollt im Tempel Zeugin eines Zwiegesprächs wird
Es ist still geworden im Tempel der großen Göttin. Die Hitze draußen zwingt alle ins Dämmerlicht der Klausen, wo die Priesterinnen nun für sich sind und ihren Tagträumen nachhängen oder in aller Stille einfach beten oder schlafen. So auch Europa. Sie spricht mit ihrem Kind unter ihrem Herzen.
„Sie unbesorgt, ich werde dich von Anfang an zu schützen wissen. Der Minos von Kreta wird ebenfalls seine schützende Hand über dich halten.“
Dabei streicht sie sanft mit ihren Händen über ihren Bauch, um auch so dem kommenden Kind Wärme und Zärtlichkeit zu senden. Wie von selbst wandern ihre Gedanken aber wieder weiter: Zu ihrer Begegnung mit dem Fremden, der Nacht mit ihm in der Höhle hier auf Kreta, ihrer Flucht am Morgen und ihrer Rettung durch die Fürsorge von Chandaraissa, der Hohenpriesterin. Sie lieben sich. Ein neues Gefühl für sie, das sie stark macht, das ihr wie ein unverhofftes Geschenk der großen Göttin vorkommt und das beschwingt und heiter stimmt – trotz der eigenartigen Vorkommnisse heute bei der Tanzprobe. Und ihre innere Stimme sagt ihr ganz deutlich, dass da jemand ihr schaden will, dass sie auf der Hut sein muss. Und plötzlich holt sie eine unwirkliche Unruhe aus ihrem Tagtraum. Sie steht auf, geht leise auf den langen Flur, in dem sich luftig leichte Staubtänzer wie kleine Glitzervögel auf und ab zu bewegen scheinen. Ein Zauberbild eleganter Bewegungen und lautloser Musik. Barfuß schlendert sie ziellos an den Zellen der Priesterinnen entlang. Von irgendwo weht Flügelgeflatter an ihr Ohr. Europa weiß selber nicht, warum sie jetzt an dieser Ecke steht und lauscht. Auf was? Auf wen? Hört sie jetzt auch schon Stimmen, wo keine sind? Ein Kichern holt sie zurück in den heißen Nachmittag. Das will gar nicht enden, das Kichern. Als sie vorsichtig um die Ecke schaut, sieht sie die zwei tuschelnden jungen Priesterinnen. Sie scheinen sich völlig alleine zu fühlen. Unbefangen umarmen sie sich, küssen sie sich, kichern, seufzen. Ein schönes Bild. Sarsa und Belursa. Ob Chandaraissa und ich je so sein können, fragt sich Europa. Sie sehnt sich so sehr nach Nähe. Jetzt hört sie auch, was die beiden beim Kichern für Wörter flüsternd austauschen:
„Die waren aber auch wirklich zu komisch oder?“
„Komisch, ich fand, die waren völlig durcheinander. Als wenn sie Angst gehabt hätten.“
„Angst? Stimmt, jetzt seh ich es auch. Thortys hat ganz eigenartig gestottert. Das war gar keine Verlegenheit, das war Angst.“
„Aber wovor?“
„Frag mich was Besseres, Nemetos hatte sogar eine Waffe unter seinem Gewand.“
„Hatten die etwas vor, das schief gelaufen ist oder warum diese Angst in ihren Augen?“
Wieder beginnen sie zu kichern. Aber Europa reimt sich gleich zusammen, was die Ursache für die Angst der beiden Männer gewesen sein könnte.