Europa – Gift und Gegengift Mythos # 28
Gift und Gegengift – Lebensfreude und Lebenslüge so nahe beieinander
Gelassen und voller Zuversicht geht Europa den vier fremden Frauen entgegen. Haltung und Blick verraten ihr, dass sie unsicher sind, nicht wissen, was sie sagen sollen. Das nehme ich ihnen gerne ab, denkt Europa lächelnd.
„Ihr freundlichen Frauen, sagt mir, der Fremden, wo finde ich die, über die so viel
Gutes erzählt wird?“
Die vier halten den Atem an. Die Fremde scheint zu ihrer Herrin zu wollen. Da können sie helfen, ganz ohne Probleme.
„Folge uns einfach, wir führen dich zu ihr!“
Erleichtert und doch auch verlegen wenden sie sich um und laufen kichernd zurück Richtung Höhle. Europa kann ihnen kaum folgen, so behende bewegen sie sich. Der Wind spielt mit ihren Gewändern, trägt ihr leises Lachen zu ihr hin. Europas Herz beginnt heftig zu schlagen. Halb scheint es Unsicherheit zu sein, halb fast so etwas wie Wiedersehensfreude. Aber sie kennen sich doch gar nicht.
Später werden die beiden Frauen noch oft über diese erste Begegnung sprechen, wie erstaunt sie waren, weil sie beide meinten, sofort das Gefühl gehabt zu haben, den anderen schon zu kennen, obwohl sie sich noch nie begegnet waren. Liebevoll hatten sie sich sacht umarmt, hatten des anderen Wärme und Duft genossen wie etwas längst Vertrautes. Mit niedergeschlagenen Augen standen die vier jungen Priesterinnen um die beiden herum, unablässig mit der Frage beschäftigt, wer ist sie, die von ihrer Herrin so herzlich und vertraut empfangen wird, wer ist sie?
Dann waren sie alle wortlos zum Palast von Paito gegangen. Chandaraissa und Europa hatten leise miteinander gesprochen unterwegs; die vier rätselten und konnten sich einfach keinen Reim daraus machen. Möwen hatten sie mal im Sturzflug, mal im Steigflug, mal in weiten Bögen kreischend begleitet. Denen war es wohl einerlei, die Aufregung in den Köpfen der sechs Frauen störte sie nicht bei ihrer Futtersuche und ihren unordentlichen Lufttänzen. Und die Sonne forderte ihr Recht, je näher sie dem Palastbereich kamen. Ein heißes Flimmern ließ die Luft erzittern.
Endlich finden sie Zuflucht vor der Hitze in der kühlen hohen Halle des Tempels der Göttin. Für einen kurzen Augenblick legen sie sich bäuchlings auf die kalten Steinplatten inmitten des großen Raums, beten, stehen tief seufzend wieder auf und gelangen dann durch einen kleinen Torbogen in die Bibliothek. In den Nischen den Wänden entlang warten zahllose Papyrusrollen auf neugierige Leserinnen. Hier holen sie sich immer wieder neue Ideen, neuen Trost, neue Zuversicht, wenn ihnen außerhalb dieses stillen Saals Unbill widerfuhr. Und hier erzählt Chandaraissa den jungen Priesterinnen in den Dämmerstunden aus ihren Träumen und aus all den Geschichten, die sie hier schon gelesen hat. Immer geht es um die eine Botschaft, die sie alle weitergeben sollen.
Heute nun sitzen sie still auf dem weichen Sandboden mit dem Rücken an die Schriftrollenwände gelehnt und beschäftigen sich mit selbst gewählten Texten oder rätseln weiter über die Herkunft der freundlichen fremden Frau. Chandaraissa unterhält sich mit ihr leise. Und Europa hört staunend zu. Denn nichts, was sie hört, kommt ihr fremd vor. Im Gegenteil. Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück, die Chandaraissa wieder und wieder in wunderbaren Beispielen umkreist, klingt Europa so, als spräche erneut die Göttin selbst direkt zu ihr. Wie oft hat sie in ihren Träumen mit einer lachenden Frau getanzt, die sich Lebensfreude nannte, die sie in neue Träume lockte, wo Lachen und Lebenslust wie Zwillinge mit ihr feierten nächtelang. Haut schmiegte sich da an Haut, Stimmen schmeichelten erhitzten Ohren, schöne lange Seufzer beendeten das Fest. Unvermittelt ergreift Europa Chandaraissas Hand, seufzt begeistert und sagt dann ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben:
„Wir müssen Schwestern sein. Hoffentlich ist es nicht vermessen, das zu sagen.“
Lachend schüttelt Chandaraissa den Kopf, das lange Haar wild wallend drum herum. Dabei umarmt sie Europa liebevoll und flüstert ihr etwas in Ohr, das auch gerne die Männer verstanden hätten, die sich in einem geheimen Gang hinter der Bibliotheksmauer aufhielten und verzweifelt ihre Ohren an einen schmalen Spalt drückten, der zwischen ihnen und den beiden jetzt lachenden Frauen liegt. Aber sie können nichts verstehen, so sehr sie sich auch bemühen. Es ist zum Verrückt Werden! Wenn sie wieder ohne eindeutiges Material zum Vertreter des Minos zurückkehren, wird es vorbei sein mit ihren Zulagen. Das macht die Männer nur noch zorniger auf die beiden Frauen, die sich jetzt auch noch leidenschaftlich umarmen.
Sie fassen kurz entschlossen einen einfachen Plan. Sie werden schlicht eine schlimme Geschichte erfinden, die sie gehört haben wollen. Punkt. Zardonius wird es sicher gerne glauben, denn ihm ist alles recht, wenn es nur etwas ist, das es ihm möglich macht, diese stolze Chandaraissa von ihrem Priesterinnenthron zu stürzen. Wie hatte Zardonius erst neulich gesagt:
„Frauen nicht trauen! Das ist die Botschaft. Hinter ihrem lüsternen Lachen verbirgt sich immer das gleiche Gift, mit dem sie die Männer schwach machen wollen. Das einzige Gegengift liegt doch wohl auf der Hand: Macht sie schwach, dann bleiben wir stark. Und ich weiß es aus jedem Orakel seit alters her, die Götter sind mit uns dabei. Glaubt mir, ich weiß es einfach!“
Stolz klopfen sie sich gegenseitig auf die Schultern. Warum also weiter zuhören, wo man sowieso nichts verstehen kann? Und auf dem Weg zu Zardonius, dessen Geduld mit seinen Spionen allmählich zu Ende geht, legen sie sich eine schöne miese Geschichte zurecht, mit der Zardonius vor Archaikos ganz sicher viel Lob ernten wird. Die beiden Spione träumen schon genüsslich von ihrer Beförderung. Dann können sie sich endlich Frauen nehmen, werden eine Hütte zugewiesen bekommen. Frauen. Denen werden sie aber von Anfang an klar machen, wie stark sie sind. Voller Erregung und Geilheit stürzen sie zum Raport.