Europa – Verraten und verkauft (Meditation # 38)
Wenn wir Europäer unsere Identität an der Garderobe abgeben…
Gut erzogen gibt man sich bei der Begrüßung die Hand, schaut sich in die Augen, lässt dem Gast den Vortritt und erkundet sich höflich nach dem Verlauf der Reise. Ob das nun in Portugal ist, in Dänemark, in Irland, Estland oder Luxemburg – solche kleinen Freundlichkeiten haben wir schon als kleine Kinder gelernt, den Erwachsenen abgeschaut, in den Filmen beobachten können; so verschieden es in den verschiedenen Sprachen auch klingen mag, die Botschaft ist doch immer die gleiche: Sei freundlich zum fremden Gast, sei hilfsbereit und zugewandt, dann wird das Treffen auch gut ablaufen können. Die Gespräche mögen schwierig sein, die Verständigung eines Dolmetschers bedürfen, dennoch werden beide Seiten immer das Gefühl haben können: Hier werde ich nicht über den Tisch gezogen, hier werde ich respektvoll behandelt, meine Andersartigkeit geachtet, meine Fremdheit sogar geschätzt. Und solche Gepflogenheit kursieren nun schon nicht nur Jahre und Jahrzehnte, nein, sie gibt es als alte Traditionen europäischer Zivilisiertheit schon so lange. Der Gast ist König. (Dass es einen ganz ähnlich lautenden Slogan mittlerweile gibt, den unsere guten Bekannten bei uns eingebürgert haben und geradezu Zwangscharakter anzunehmen beginnt, soll später kritisch eingeflochten werden)
Soweit das überkommene Modell landauf, landab in Europa.
In diesen Tagen nun treffen sich wieder so zwei Bekannte, diesmal mitten in Europa. Man begrüßt sich höflichst, kennt die Etikette, weiß um sensible Punkte, die man elegant umkurvt, spielt die Hymnen ab und gibt sich gastfreundlich wie noch nie. Auch der Gast zeigt sich von seiner besten Seite. Als ginge es um nichts als um einen Besuch unter guten Bekannten, ja fast Freunden. Dabei stehen handfeste Interessen auf dem Spiel. Die Stimmung ist vor allem eher sachlich. Bei Tisch tut man aber so, als meine man, was man sagt. Die Geschichte weiß allerdings eine andere Geschichte zu erzählen:
Der Übergang von der Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft gelang dank einer rustikalen Doppelstrategie auf elegante Weise: Erneuter kleiner Krieg im Fernen Osten und Kredite, riesige im Westen. Die neue Devise, die man nachhaltig mitlieferte, lautete nun: Der Kunde ist König, beziehungsweise stetes Wachstum muss jedem gewissermaßen zur zweiten Natur werden. Und wenn man heutzutage durch die Filialen welcher Kette auch immer streunt, strahlen einem furchtbar hilfsbereite Menschen entgegen, die wie die Karotten, die auch nur als genormte in die erste Klasse Eingang finden, d.h. wenn sie glatt wie Kieselsteine, frisch im Aussehen wie abgeschminkte und geduschte Models und regelmäßig wie ein Algorithmus aussehen – alles andere wird ungesehen einfach eingestampft. So auch diese hilfsbereiten Menschen: Ihre Individualität, ihre Ecken und Kanten, ihre gute und schlechte Laune, ihre Stärken und ihre Schwächen sind systematisch so in Form von Selbstzensur zu verstecken oder sonst auszusortieren, dass sie der einen Norm entsprechen (um jeden Preis!): Der Kunde ist König. Dass hier allerdings ein grundlegendes Missverständnis in Sachen Individualität vorliegt, müsste im Grunde jedem halbwegs genauer hin Denkenden aufgefallen sein. Und Menschen zu Sortieren bloß nach ihrer Konformität widerspricht dem Leben und der Natur der Dinge vollkommen. Die damit einhergehende zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und die nicht mehr wegzudiskutierende Drogenkonsumbereitschaft werden klein geredet oder als attraktive Zukunftsprojekte für Therapie-Strategien in akademischen Modulen durch dividiert, bis die Subventionen gestrichen werden müssen.
In solch einem auf Nivellierung wegen anzustrebender Maximierung der DAX-Werte ausgelegten Wirtschaftssystem finden sich allerdings derzeit viele Europäer nicht mehr wieder. Sie fragen sich, ob das die Lehren aus der europäischen Kulturgeschichte sein können, wenn bloßer Konsumismus und epidemische Gleichgültigkeit in Sachen öffentlichem Leben als Quintessenz der zukünftigen Gestaltung Europas angesehen werden. (Der homo politicus als Ammenmärchen antiker Geschichtenerzähler)
Sie fragen sich, ob da nicht etwas gründlich missverstanden wird.
Sie fragen sich, ob da nicht eine überschaubare Gruppe von Bürokraten den Begriff Europa nicht einfach leichtfertig ausgeliehen haben, um sich selbst und die Interessen von wenigen großen Playern zu bedienen.
Sie fragen sich, ob es nicht an der Zeit sein könnte, Verschüttetes, Vergessenes wiederzubeleben.