Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 58)
Kassandra meldet sich mal wieder vergeblich zu Wort
Es ist fast so wie früher – nur eben etwas prosaischer: Der König ist tot, es lebe der König, so klang das früher. Heute folgt auf den alten Präsidenten ein neuer. Gewählt natürlich, nicht von Gottes Gnaden, klar. Aber welche Wahl hatten denn die Wähler? Das Volk soll weise davon verschont bleiben, den Volkswillen zu benennen. Bonn ist nicht Weimar. Klar. Präsidiale Muster hatten sich nicht bewährt. Der Parlamentarische Rat wollte die Legislative stärken. Und dass einmal das Parteiensystem diese Legislative einschläfern würde, konnte man damals ja noch nicht ahnen. So fällt diese Aufgabe hierzulande der Bundesversammlung zu: Mehr als Tausend an der Zahl. Und wen haben sie gewählt? Überraschung! Nein, keine Überraschung. Im Vorfeld war alles besprochen und abgesegnet worden. Die beiden großen Parteien hatten bei der Güterabwägung einen gemeinsamen Kandidaten aus dem Hut gezaubert. Über die Medien durfte sich das Volk klug machen: Es wird der, der ins Bild passt. Wer denn sonst? Butterwegge? Na also, wirklich!
Vor ein paar Wochen in der sogenannten Neuen Welt das gleiche Spiel. Sanders? Na also, wirklich!
Die entscheidende Truppe waren die Wahlmänner, nicht das Volk. So kam eine Mehrheit zustande, die nicht der Mehrheit des Volkes entsprach, aber völlig verfassungskonform war: Trump hieß der Joker. Der hatte hoch gepokert, mit Tarnen und Täuschen, und hatte gewonnen. Jetzt reibt man sich verdutzt die Augen und macht einen in Schadensbegrenzung.
Da scheinen wir in Europa doch viel klüger zu sein. Überall in Europa wachsen die Parteien, die die Segnungen der Globalisierung und der EU für übles Strohfeuer brandmarken und bei den erschöpften Demokraten an Boden gewinnen, weil die es einfach satt sind, gebetsmühlenartig immer wieder über den Tisch gezogen zu werden, während Arbeitsplätze wegrationalisiert, Banken mit Steuergelder gerettet und Boni nach wie vor automatenhaft weiter prächtig ausgeschüttet werden – was für Fehler die Verantwortlichen auch immer zu verantworten hätten.
Steinmeier wird keinen Schaden anrichten, für ihn gibt es kein Tarnen und Täuschen, er bleibt sich treu. Agenda 2010 – er, der Mitarchitekt. Und die selbstkritischen Texte nach Brexit und Trumpwahl – wir müssen auch die ins Boot holen, die sich abgehängt fühlen – scheinen Schnee vom letzten Jahr zu sein. Leute, die vor vier Jahren Obama gewählt hatten, wählten diesmal Trump. Wäre es nicht gut daraus eine kleine Lehre zu ziehen? Allein schon der Hype um den neuen Kanzlerkandidaten der SPD sollte doch nur zu deutlich machen, dass der Wähler des Wahljahres 2017 keine Parteien wählen wird, sondern enttäuscht oder zornig oder aus reinem Mutwillen demjenigen seine Stimme geben wird, der nicht mit den alten Rezepten zur EU hausieren geht, sondern mit Vorschlägen kommt, die die Ängste, die Wut und die Resignation so vieler Europäer bedient.
Die Harmonie-Orgie im Bundestag bei der Wahl der neuen Bundespräsidenten mit glücklichen Menschen und schönen Blumensträußen könnten vielen Zuschauern übel aufstoßen – als gäbe es keine Schere im Land, die immer weiter auseinander geht; der Jubel der Linken über das Ergebnis ihres Kandidaten Butterwegge wurde höflichst weg gelächelt, gehen wir doch schnell wieder zur Tagesordnung über: Ach ja, Griechenland. Stimmt. Denen geht es ja noch viel schlechter. Die Bundesrepublik als großer Gläubiger der EU ( so um die 750 Milliarden Euro…!) besteht nach wie vor darauf, dass Griechenland (mit Schulden so um die 350 Milliarden Euro…!) mal endlich Wirkung zeigt. Irgendwann ist die Geduld eben zu Ende. Oder? Die peinliche Frage allerdings, wie man einem Land wie Griechenland Kredite in solcher Höhe gestattete, darf nicht gestellt werden, sie fiele nämlich auf die Geldgeber zurück und die waschen natürlich mit ernster Miene ihre Hände in Unschuld.
Wenn am Wahlabend in den kommenden Wahlmonaten die Analysten die Wählerwanderungen auf bunten Grafiken dem europäischen Bürger ins Wohnzimmer schicken werden, werden die sich wahrscheinlich gar nicht wundern, was da sichtbar werden wird. Die etablierten Parteien werden aber die Welt nicht mehr verstehen vor Staunen und Gruseln. Solch eine pessimistische Prognose möchte man wohl gerne widerlegt sehen. Aber das Wünschen bleibt auch in sogenannten postfaktischen Zeiten den Märchen überlassen.