20 Mai

Europa – Meditation # 450

Der fünfzigste Tag.
Pentekostae Hemera. Schönstes Griechisch, aus dem im Deutschen nach und nach der Zungenbrecher Pfingsten geworden ist. Wer weiß denn heutzutage noch, was hinter der Zahl 50 eigentlich steckt? Schon die Frage setzt etwas voraus, das zunehmend abhanden kommt: Wissen und Wissen Wollen. Längst wischt man sich durch digitale Angebote, wirft kurz einen Blidk darauf, verwendet im nächsten Gesprächsbeitrag cool das fehlende Puzzleteil, schweift erneut ab, schnappt wieder etwas auf, das man nicht weiß, wischt sich erneut durch die vertrauten digitalen Signalstraßen und hüpft so vom Stöckchen aufs Hütchen und so weiter. Gleichzeitig wischt man sich durch die neuen Bilderstrecken von Überschwemmungen in Brasilien, Afrika und im Saarland, gefällt sich in einem zynischen Beitrag: „Na, dann gibt es zumindest zur Zeit keine Waldbrände, wie letztes Jahr“, und lacht dazu ein schmallippiges „Huhuhu!“ und entscheidet gleichzeitig im inneren Tageskalender, dass man am Abend unbedingt einen Blick in die neue Staffel werfen wird, weil die letzte inzwischen so was von ausgelutscht ist, dass man schlecht gelaunt einen Spruch loslässt, wie einfallslos und oberflächlich doch diese Serien seien. Als wäre man selber ein besserer Macher an dieser Stelle, wenn man ihn nur ließe…! So geht auch dieses Wochenende wie ein schlechter Film – bei so einem miserablen Wetter aber auch – am Betrachter vorbei, und die näher rückenden Einschläge im ehemaligen Palästina und der Ukraine sorgen höchstens für zusätzlichen Nervenkitzel. Radikale Siedler im West-Jordanland bringen Laster mit Lebensmittel zum Anhalten und werfen die Ladungen auf die Straße, damit die flüchtenden palästinensischen Familien im Gazastreifen nicht überleben können. Junge Israeli reisen im Bus an, um Schadensbegrenzung und Solidarität mit den traumatisierten Familien in Rafah zu praktizieren; der Zuschauer in der BRD soll stattdessen den 75. Geburtstag „seiner“ Verfassung feiern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“…Wie langweilig. Zumal keine Fußballspiele anstehen, Jürgen Klopp in Liverpool aufhört (der sollte mal den Laden in München aufmischen! geht es dem Besserwisser in seinem vollautomatischen Fernsehsessel durch den Kopf-Schmerz-Kopf); über Tirol wird er dieses Jahr bestimmt nicht an die Adria fahren, klar, wär‘ er ja schön blöd. Schnäppchen-Flug, klar. Was soll das mit dem fünfzigsten Tag denn eigentlich bedeuten, stört ihn da aufdringlich die Überschrift? Ach so, Pfingsten. Das mit dem schlauen Vogel, da soll den Aposteln doch ein Licht aufgegangen sein: Endlich der volle Durchblick, endlich wurde denen da gesagt, wo es lang gehen sollte. Die Einzelheiten verhandelten dann uralte Männer auf sogenannten Konzilien per Mehrheitsbeschluss: Ein, zwei oder drei Gottheiten – oder einfach alle in einem. Nicht schlecht. Dass aber heute uns Europäern, von den abrahamitischen Religionen nachhaltig geprägt im Denken und Handeln (Salman Rushdie hat mit seinen „satanischen Versen “ dazu ein phantasievolles Ausrufezeichen gesetzt), kein Licht aufgeht, sondern man lieber mit leichtem Gänsehaut-feeling die bedenklichen Erschütterungen im San-Andreas-Graben in Kalifiornien an sich vorbei flimmern lässt, hat schon etwas sehr Befremdliches: wie aufgeregte Ameisen flitzt der homo sapiens durch die Feiertage und meint, selber von all dem Desaster nicht betroffen zu sein. Als könne er in Dauerschleife Zuschauer bleiben in einem planetarischen Geschehen, bei dem er unterdessen fleißig mithilft weiter an dem Ast zu sägen, auf dem er selber selbstgefälllig hockt. Im Roman von Anthony Doerr „Wolkenkuckucksland“ kann der gebildete Europäer gleichzeitig schmunzelnd folgende Textstelle vor seinen Augen Revue passieren lassen: .
„Seymour interessieren die Methanmengen, die im sibirischen Permafrost eingeschlossen sind. Über den Rückgang der Eulenpopulationen zu lesen, hat ihn auf die fortschreitenden Entwaldungen gebracht, die zu Bodenerosion führen, zur Verschmutzung der Ozeane und dem Korallensterben, alles erwärmt sich, schmilzt und stirbt weit schneller, als die Wissenschaftler es vorausgesagt haben, jedes einzelne System auf diesem Planeten ist auf unzählige unsichtbare Weisen mit allen anderen verbunden: Kricketspielern in Delhi wird wegen der Luftverschmutzung in China schlecht, indonesische Torffeuer pumpen Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre über Kalifornien, riesige, Millionen Morgen überziehende Buschfeuer in Australien färben die letzten Gletscher Neuseelands rosa. Ein wärmerer Planet = mehr Wasserdampf = ein immer noch wärmerer Planet = auftauender Permafrost = im Permafrost gebundenes COzwei und Methan geraten in die Atmosphäre = mehr Hitze = weniger Permafrost = weniger Eis an den Polen, das die Sonnenenergie reflektiert, und all die Beweise dafür, all die Untersuchungen stehen in der Bibliothek, jeder kann sie finden, aber soweit Seymour das sagen kann, ist er der Einzige, der sie sich ansieht.“
Der fünfzigste Tag. Man könnte natürliche auch die „Geheime Offenbarung“ des Johannes (NT) zu Rate ziehen – als Szenario, das in Hollywood-Schinken längst rauf und runter bespielt wird – um sich ein Bild vom Untergang zu machen. Aber Angst machen gilt nicht. Dann doch lieber weiter Bespaßen lassen – in Vorfreude auf die kommenden End-Spiele in Berlin und Dublin und die sicher wieder märchenhaft unterhaltsame Europameisterschaft im eigenen Land!

12 Mai

Europa – Meditation # 449

Die zerbröselnde Zeit – als Augenblick wie zeitlos.
Europa hat mit Hilfe der Schrift ihr Denken fleißig weiter gegeben, von Jahrhundert zu Jahrhundert. Auch die über die Vergänglichkeit von allem. Epikur und Epiktet können ein Lied davon singen, das kluge Köpfe immer wieder angestimmt haben. Umsonst. Gerade tut die species homo sapiens sapiens so, als sei sie am Ende dieser Geschichten angelangt, habe endgültig dem Werden und Vergehen Einhalt geboten, sie seien Herr des Geschehens: Dabei ist es ihnen nur gelungen, die Veränderungen scheinbar so zu beschleunigen, dass unsere Sinne – berauscht und benebelt ob der atenberaubenden Geschwindigkeit – das so flüchtig Wahrgenommene für festen Gund zu halten gerne bereit sind.
In einem soeben erschienenen Unterhaltungsroman ist Entsprechendes zu lesen, als wäre es ein Kochrezept: „Die Dinge, die in dieser Welt unveränderlich scheinen, mein Kind, Berge, Wohlstand, Kaiserreiche, ihre Beständigkeit ist nichts als eine Illusion. Wir glauben, dass die Dinge immer weiter bestehen bleiben, doch das liegt nur daran, dass unsere Leben so kurz sind…“ (S. 154 Wolkenkuckucksland. Roman btb 2023 von Anthony Doerr). In diesem fiktiven Narrativ geht es um die Belagerung von Konstantinopel, das seit 1453 Istambul heißt: „DIE STADT“. Ob Paris, Berlin oder Kopenhagen, ameisengleich bauen sie an bröselnden Türmen umsonst und versuchen die übergroßen Vorbilder zu kopieren.
Ein Tyrann wie der Nitup oder ein Clown wie der Trampel sind genauso flüchtig wie große Bündnisse oder todbringende Gerätschaften, die sich der menschliche Geist auszudenken versteht, um seine eigenen Werke vor der Zeit wieder zu zerstören. Die neuesten Spielzeuge, die der homo sapiens sapiens erfunden hat, könnten auch seine letzten sein. Denn sie haben das Zeug dazu, den bereits verinnerlichten Selbstbetrug noch zu toppen. Zumal nun auch bereits die Jüngsten mit in diesen schwindlig machenden Strudel gerissen werden. Elteren haben längst resigniert: Dem Geschrei der Kleinen ist nur noch eine Ende zu setzen, wenn man ihnen die nächsten Spiele oder Filme doch noch zugesteht. Bis die Süßen übermüdet wegdämmeren. Die sogenannten „großen Fünf“ beherrschen nicht nur die Trends an den Börsen, nein, sie haben auch die Europäer längst mit im Sack; von Rüstungsprodukten bis zum kleinsten schnurlosen Monitörchen. Und auf alle wirkt es so, als sei es eine Hilfe, mache das Leben bequemer und schaffe Freiräume für kreatives, eigenes Schaffen.
Die müden Blicke auf die Bildschirme verundeutlichen auf zauberhafte Weise die Wahrnehmung von sich und der Welt – panem et circenses hieß es früher einmal – jetzt spricht man von non-stop-day-and-night-program –
Wir Europäer haben uns nachhaltig umstellen lassen von englischen Einflüsterungen und Bilderfluten, der Brexit ist dabei genauso unterhaltend und eine Lügengeschichte wie die Hymnen auf die Freiheit, wenn es um gemeinsame Drohgesten und Aufrüstungen gegen alle geht, damit wir alle weiter im Hamsterrad des Konsumierens und der Wachstumsbotschaft vor uns hin dilirieren. Längst ist es uns zur Gewohnheit geworden, Bilder von Ballspielen vor einer brüllenden Horde von ausrastenden Menschen ohne jeden Übergang an solche von Kriegsschauplätzen mit all ihrem Leid und wahnsinnigen Zerstörungsfuror anzuschließen, umrandet von Flutkatastrophen oder Feuersbrünsten, als wären es Filme und nicht gleichzeitig stattfindende, mörderische Realitäten. Rückblicke zu den letzten Kriegen wirken demgegenüber wie Vorgeplänkel, die weinenden Mütter und Kinder damals wie heute führen nach wie vor nicht zu der alles entscheidenden Einsicht: Umsonst, Lüge, Leid, Tod -sonst nichts. Dass der Drogenkonsum in Europa weiter zunimmt – wen wundert es eigentlich? Die Medien berichten auch über diesen Trend wie über eine Wetterkarte, die lediglich natürliche Vorgänge abbilde, sonst nichts.
Und in den social media werden die Kommentare kürzer und kürzer, weil schon der nächste klick bedient werden will. Sonst nichts.

06 Mai

Im Labyrinth der Götter – Blatt 191 – Leseprobe/Historischer Roman II

Der kühle Empfang von Julianus in Dividorum


Nach dem missglückten Anschlag verläuft der Rest der Reise ohne Zwischenfälle. Wenn sie durch kleine Weiler oder Dörfer reiten, schauen die Menschen misstrauisch aus ihren Verschlägen. Der sieht aber nicht aus wie ein Franke, was sind das denn für zwei Begleiter, wo kommen die wohl her, wo wollen die hin – so oder ähnlich lauten wahrscheinlich die stummen Fragen, die sie stellen. Julianus kann sie nur zu gut verstehen. Sie leben in Angst, haben Hunger und werden zu immer höheren Abgaben oder zum Waffengang gezwungen. Was für eine Welt. Verglichen mit dem Leben in der Villa Marcellina an der Liger eher erbärmlich. Julianus versucht seine Gedanken zu ordnen. Er weiß, er schwebt in Lebensgefahr. Sein Plan, Bischof von Dividorum zu werden, könnte scheitern, noch bevor er dort angekommen ist. Seine beiden Begleiter reiten stumm vor ihm her. Er kann ihr schlechtes Gewissen geradezu riechen. Als habe er die Gedanken Julianus‘ gespürt, dreht sich jetzt der eine zu ihm um:“ Wir sind bald da!“ Julianus nickt grinsend. Ihr Weg ist mehr und mehr von Leuten gesäumt, die ihnen nachstarren oder bewusst wegschauen. Getuschel dann. Von einer Anhöhe aus sieht Julianus jetzt auch den alten Kirchturm. Gleichzeitig tritt die Sonne hinter einem weißen Wolkenberg blendend hervor. Ein gutes Zeichen oder will sie mich blenden? Julianus entscheidet sich für die erste Variante.
Als sie durchs südliche Stadttor reiten, die beiden Begleiter mit der Wache sprechen, verbeugt man sich freundlich vor Julianus und lässt ihn passieren. Im Gewühl der engen Straßen steigen sie ab und führen ihre Pferde am Zügel neben sich. Ein normaler Alltag in Dividorum. Julianus nimmt das Leben der Bürger neugierig auf. Vielleicht werden sie bald zur meiner Inthronisation als Bischof kommen. Voller Neugier: Ein völlig fremder Mann, gerade erst im Schnellverfahren getauft, und auch noch aus einer alten, römischen Senatorenfamilie! Für einen Augenblick spielt er mit dem Gedanken, seinen kühnen Plan aufzugeben. Doch schon melden sich in seinem Kopf der Vater und sein Lehrer Philippus: „Für einen Römer gibt es keine Furcht. Und für die Gemeinschaft eine Aufgabe zu übernehmen, ist für jeden aus der Familie der Villa Marcellina eine Verpflichtung, die man nicht ausschlägt.“ Julianus atmet tief durch. Vor lauter Grübeln hätte er beinahe seine beiden zwielichtigen Begleiter aus den Augen verloren. Da gelangen sie auch schon zum Mittelpunkt von Dividorum: wuchtig erhebt sich vor ihnen die gedrungene Fassade der romanischen Bischofskirche, wuchtig auch die Türme. Zu beiden Seiten eines arkadengeschmückten
Vorbaus hohe Mauern, dahinter in einem Garten das bischöfliche Palais. Auf dem Platz glotzen die Leute neugierig, brechen ihre Gespräche ab, weisen mit dem Finger auf die Fremden und die drei Pferde. Als sie ihm Torbogen zur Rechten ihre Pferde abgeben, hat Julianus eine ersten Blick auf seinen Amtssitz. Ein prächtiger Bau, mit vielen Fenstern, einem Balkon und einem Portal, zu dem drei breite Stufen hinauf führen. „Man wartet sicher schon auf euch“, flüstert der eine, aus dessen Augen immer noch Schuldgefühle wie üble Nebelschwaden zu quillen scheinen. Julianus nickt. Der andere lässt den Türklopfer ertönen. Schon wird geöffnet. Man hatte sie wohl aus den kleinen Fenstern kommen sehen. Und während die beiden Begleiter Julianus‘ Gepäck von den Pferden holen, leitet ihn ein alte Priester
mit jovialer Miene weiter ins Innere, in einen Empfangsraum, wo schwere, dunkle Teppich an den Wänden hängen – mit Motiven aus dem alten Testament bestickt – und Julianus zu einem Stuhl mit hoher Lehne geführt wird, wo er sich dankend und seufzend niederlässt. „Darf ich ihnen eine Erfrischung bringen lassen?“ fragt der Alte und verzieht dabei keine Miene. „Ja, gerne, das wäre sehr freundlich. Wir haben wahrlich ein beschwerliche Reise hinter uns.“ Da verzieht der alte Priester nur kurz sein Gesicht zu so etwas wie einem mitfühlenden Lächeln, bevor er sagt: „Ich bin übrigens Pater Stephanus. Bischof Arnulf hat mich vor vielen Jahren zu seinem Hausmajor gemacht. Seit er tot ist, verwalte ich sein Haus, bis der neue Bischof kommt.“ Julianus muss innerlich herzlich lachen. Als wenn der nicht wüsste, dass hier bereits dieser neue, künftige Bischof vor ihm steht. „Das Haus Gottes und das bischöfliche Palais machen einen wohl bestellten Eindruck. Ihr seid ein umsichtiger Verwalter des bischöflichen Anwesens, so weit ich das bei meinem ersten Eindruck sehen kann.“ Pater Stephanus
fühlt sich geschmeichelt und verlässt sich erneut verbeugend den düsteren Raum. Julianus hört, wie seine beiden Begleiter Stephanus fragen, wohin sie das Gepäck bringen sollen. Für ein paar Momente schließt er seine Augen, denkt an die Villa, an Somythall, an Sumil, an Pippa. Ob sie schon in Mons Relaxus angekommen sind? Ob es Zwischenfälle gab, so wie den, den e r erleben musste? Da kommt aber schon Pater Stephanus zurück. In der Rechten ein Tonkrug und in der linken ein hölnerner Becher. Mit zitternden Händen stellt er die Gefäße auf dem großen Holztisch ab, an dessen Ende Julianus sitzt. „Danke!“ sagt Julianus, weiter nichts, als ihm das frische Wasser in den Becher gegossen wird. Später – es hatte sich natürlich längst herumgesprochen – kamen die Vertreter der Bürgerschaft von Dividorum, um den Kanditaten auf den Bischofssitz zu beschnuppern. Immerhin ist die Stadt um einiges größer und wohlhabender als Lutetia, liegt sie doch an der wichtigen Handelsstraße zwischen Augusta Treverorum und Ludgunum. Und der Bischof ist für die Bürger der wichtigste Mann. Seine Macht steht über allen. Julianus scheint auf die neugierigen Männer einen guten Eindruck zu machen. Sie behandeln ihn mit Respekt. Ob aus Überzeugung oder voller Berechnung lässt sich aus ihren Mienen natürlich nicht ablesen.