Europa – Meditation # 450
Der fünfzigste Tag.
Pentekostae Hemera. Schönstes Griechisch, aus dem im Deutschen nach und nach der Zungenbrecher Pfingsten geworden ist. Wer weiß denn heutzutage noch, was hinter der Zahl 50 eigentlich steckt? Schon die Frage setzt etwas voraus, das zunehmend abhanden kommt: Wissen und Wissen Wollen. Längst wischt man sich durch digitale Angebote, wirft kurz einen Blidk darauf, verwendet im nächsten Gesprächsbeitrag cool das fehlende Puzzleteil, schweift erneut ab, schnappt wieder etwas auf, das man nicht weiß, wischt sich erneut durch die vertrauten digitalen Signalstraßen und hüpft so vom Stöckchen aufs Hütchen und so weiter. Gleichzeitig wischt man sich durch die neuen Bilderstrecken von Überschwemmungen in Brasilien, Afrika und im Saarland, gefällt sich in einem zynischen Beitrag: „Na, dann gibt es zumindest zur Zeit keine Waldbrände, wie letztes Jahr“, und lacht dazu ein schmallippiges „Huhuhu!“ und entscheidet gleichzeitig im inneren Tageskalender, dass man am Abend unbedingt einen Blick in die neue Staffel werfen wird, weil die letzte inzwischen so was von ausgelutscht ist, dass man schlecht gelaunt einen Spruch loslässt, wie einfallslos und oberflächlich doch diese Serien seien. Als wäre man selber ein besserer Macher an dieser Stelle, wenn man ihn nur ließe…! So geht auch dieses Wochenende wie ein schlechter Film – bei so einem miserablen Wetter aber auch – am Betrachter vorbei, und die näher rückenden Einschläge im ehemaligen Palästina und der Ukraine sorgen höchstens für zusätzlichen Nervenkitzel. Radikale Siedler im West-Jordanland bringen Laster mit Lebensmittel zum Anhalten und werfen die Ladungen auf die Straße, damit die flüchtenden palästinensischen Familien im Gazastreifen nicht überleben können. Junge Israeli reisen im Bus an, um Schadensbegrenzung und Solidarität mit den traumatisierten Familien in Rafah zu praktizieren; der Zuschauer in der BRD soll stattdessen den 75. Geburtstag „seiner“ Verfassung feiern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“…Wie langweilig. Zumal keine Fußballspiele anstehen, Jürgen Klopp in Liverpool aufhört (der sollte mal den Laden in München aufmischen! geht es dem Besserwisser in seinem vollautomatischen Fernsehsessel durch den Kopf-Schmerz-Kopf); über Tirol wird er dieses Jahr bestimmt nicht an die Adria fahren, klar, wär‘ er ja schön blöd. Schnäppchen-Flug, klar. Was soll das mit dem fünfzigsten Tag denn eigentlich bedeuten, stört ihn da aufdringlich die Überschrift? Ach so, Pfingsten. Das mit dem schlauen Vogel, da soll den Aposteln doch ein Licht aufgegangen sein: Endlich der volle Durchblick, endlich wurde denen da gesagt, wo es lang gehen sollte. Die Einzelheiten verhandelten dann uralte Männer auf sogenannten Konzilien per Mehrheitsbeschluss: Ein, zwei oder drei Gottheiten – oder einfach alle in einem. Nicht schlecht. Dass aber heute uns Europäern, von den abrahamitischen Religionen nachhaltig geprägt im Denken und Handeln (Salman Rushdie hat mit seinen „satanischen Versen “ dazu ein phantasievolles Ausrufezeichen gesetzt), kein Licht aufgeht, sondern man lieber mit leichtem Gänsehaut-feeling die bedenklichen Erschütterungen im San-Andreas-Graben in Kalifiornien an sich vorbei flimmern lässt, hat schon etwas sehr Befremdliches: wie aufgeregte Ameisen flitzt der homo sapiens durch die Feiertage und meint, selber von all dem Desaster nicht betroffen zu sein. Als könne er in Dauerschleife Zuschauer bleiben in einem planetarischen Geschehen, bei dem er unterdessen fleißig mithilft weiter an dem Ast zu sägen, auf dem er selber selbstgefälllig hockt. Im Roman von Anthony Doerr „Wolkenkuckucksland“ kann der gebildete Europäer gleichzeitig schmunzelnd folgende Textstelle vor seinen Augen Revue passieren lassen: .
„Seymour interessieren die Methanmengen, die im sibirischen Permafrost eingeschlossen sind. Über den Rückgang der Eulenpopulationen zu lesen, hat ihn auf die fortschreitenden Entwaldungen gebracht, die zu Bodenerosion führen, zur Verschmutzung der Ozeane und dem Korallensterben, alles erwärmt sich, schmilzt und stirbt weit schneller, als die Wissenschaftler es vorausgesagt haben, jedes einzelne System auf diesem Planeten ist auf unzählige unsichtbare Weisen mit allen anderen verbunden: Kricketspielern in Delhi wird wegen der Luftverschmutzung in China schlecht, indonesische Torffeuer pumpen Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre über Kalifornien, riesige, Millionen Morgen überziehende Buschfeuer in Australien färben die letzten Gletscher Neuseelands rosa. Ein wärmerer Planet = mehr Wasserdampf = ein immer noch wärmerer Planet = auftauender Permafrost = im Permafrost gebundenes COzwei und Methan geraten in die Atmosphäre = mehr Hitze = weniger Permafrost = weniger Eis an den Polen, das die Sonnenenergie reflektiert, und all die Beweise dafür, all die Untersuchungen stehen in der Bibliothek, jeder kann sie finden, aber soweit Seymour das sagen kann, ist er der Einzige, der sie sich ansieht.“
Der fünfzigste Tag. Man könnte natürliche auch die „Geheime Offenbarung“ des Johannes (NT) zu Rate ziehen – als Szenario, das in Hollywood-Schinken längst rauf und runter bespielt wird – um sich ein Bild vom Untergang zu machen. Aber Angst machen gilt nicht. Dann doch lieber weiter Bespaßen lassen – in Vorfreude auf die kommenden End-Spiele in Berlin und Dublin und die sicher wieder märchenhaft unterhaltsame Europameisterschaft im eigenen Land!