18 Dez.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 128

Die Ankunft des großen Seglers in Kreta.

Chandaraissa und Europa haben sich nach der Generalprobe verabredet, sie wollen sich im Hafen ein bisschen umhören, was die Leute gerade so denken und über was sie gerade streiten. Zwei große, schlanke Figuren in schlichten Gewändern und weiten Kapuzen schlendern da durch die Gassen zum Hafen hin. Niemand beachtet sie. So scheint es. Die beiden lachen viel, ihre Augen wandern unterdessen von Haus zu Haus: Was wird da gerade getratscht?

„Der Minos soll ja jetzt eine neue Nebenfrau haben – oder?“

Anhaltendes Gekicher.

„Nebenfrau? Die sieht eher aus, als wenn sie dem Minos vorsteht!“

Aus dem Gekicher wird glucksendes Gelächter.

Da sind die beiden Frauen aber auch schon vorbei. Auch sie kichern jetzt unter ihren Kapuzen.

Als sie nun aus dem kühlenden Schatten der Gasse ins helle Licht des Hafenbeckens treten, fällt ihnen sofort der große Segler auf, der da gerade festmacht. Wo der wohl herkommt?

Oben an der Reling steht der Kapitän und neben ihm eine Frau. Chandaraissa flüstert ganz aufgeregt:

„Wer ist das? Kennst du die vielleicht?“

Europa hält eine Hand über ihre Augen, um nicht geblendet zu werden. Sie hat das Gefühl, als schaue diese Fremde von da oben ihr direkt ins Gesicht. Sie muss tief Luft holen, denn dieser Blick trifft sie mitten ins Herz. Natürlich kennt sie diese Frau. Wie ein unerbittlicher Blitz rasen gleichzeitig Bilder aus Kindertagen durch ihren Kopf, lassen ihr Herz schneller schlagen.

„Ja, ich kenne sie von früher, aus Sidon.“

„Und der Kapitän? Kennst du den vielleicht auch?“ Europa meint so etwas wie Eifersucht im Tonfall mitschwingen zu hören, als ihre Freundin, die Hohepriesterin, die Frage stellt.

„Nein, den kenne ich nicht“, antwortet Europa sofort.

Die beiden oben an der Reling beobachten unterdessen, wie das Schiff entladen wird, wie eine Amphore nach der anderen, gefüllt mit kostbarem Öl, in hölzernen Gestelle am Uferbecken aufgestellt werden. Sie sollen alle noch heute verkauft werden.

Es dauert auch nicht lange, da bildet sich eine neugierige Menschengruppe vor den Amphoren, lauter potentielle Käufer.

Die beiden Frauen, unter ihren Kapuzen kaum zu erkennen, schauen sich das Treiben in aller Ruhe an. Niemand beachtet sie. Niemand?

Im Kopf von Europa schweben alte Bilder blass vorbei, sie rühren sie bis in ihr Innerstes. Damals. In Sidon, als Athanama sie auf dem Arm hatte, sie herumtrug, sie in den Schlaf summte, während in der Halle ihre Eltern, König Agenor und Telephassa heftig miteinander stritten. Geschrei, böses.

17 Dez.

Europa – Meditation # 302

Mit wachsendem Tempo durchs turbulente Trugbild der Sprache

D i a l o g # 2

Der eine: „Die Leute haben einfach keine Lust mehr auf schlechte Laune, Bevormundung durch den Staat, Stillhalten. Die wollen einfach jetzt ihren Spaß haben. Wie sollen die denn zu Weltveränderern werden?“

Der andere: „Ach, spielst du jetzt den Fatalisten? Können ja sowieso nichts ändern? Was für eine erbärmliche Selbstbetrugs-Posse!“

Der eine: „Hör mal, du siehst dich also auf der Seite der Durchblicker, der „die Wahrheit beim Namen nennen“- Rufer in der Wüste: vielleicht hast du ja sogar schon das passende Karnevalskostüm dafür?“

Der andere: „Auch die Zeit für Scherze ist vorbei. Was glaubst du eigentlich, warum facebook in Zukunft „Meta“ heißen wird?

Der eine: „Na, der Zuckerberg will einfach ein bisschen Abwechslung in den grauen Pixel-Alltag bringen, denke ich.“

Der andere: „So naiv sein können wir uns jetzt aber wirklich nicht mehr leisten. Ich will es mal auf den Punkt bringen: Das ganze Evangelium von der Digitalisierung (vor allem endlich auch in den Schulen!) ist nichts anderes als ein globales Placebo, damit der Konsument seine double-fear losbekommt.“

Der eine: „Was ist das denn jetzt für ein Anglizismus, den hab ich ja noch nie gehört? Wenn du aufklären willst, solltest du nicht in Rätseln zum Konsumenten sprechen, mein Lieber!“

Der andere: „Schau sie dir doch an, die erfolgreichen Frauen und Männer in den Broker-Zentren! Denen steht die Angst doch ins Gesicht geschrieben. Nur ja keine Fehler machen, nur ja gute Zahlen präsentieren beim nächsten meeting, nur ja nicht den Konkurrenten an sich vorbei ziehen lassen!“

Der eine: „Ach so, du meinst den Konkurrenzkampf, klar der ist hart und unerbittlich und global vernetzt, stimmt. Da hat man natürlich in seiner Hausapotheke ein paar Pillen, die einem über den hektischen Tag helfen werden, klar. Und drunter weiter diese Angst, klar. Und die andere Angst in deinem double-fear-Feuerwerk?“

Der andere: „Die andere Angst ist natürlich die vor der Zukunft, die ja gar nicht mehr rosig aussieht. Klimawandel, Naturkatastrophen direkt vor der Haustür seit neuestem (siehe Ahrtal oder Palma-Vulkan, um nur zwei zu nennen, von dem Tornado in Kentucky hast du ja sicher auch gehört oder?). Wie soll man denn mit dieser Angst umgehen? Pillen gibt es dagegen noch nicht. So helfen wir uns eben mit einem intensiven Pixel-Pillen-Cocktail und da wären wir dann auch wieder beim Metaversum aus dem sonnigen Californien.“

Der eine: „Gruselig, ehrlich. Das sieht ja fast so aus, als würden wir freiwillig in eine neue Matrix einchecken.“

Der andere: „Du bringst es auf den Punkt. Angst fressen Seele auf.“

10 Dez.

Europa – Meditation # 301

Mit wachsendem Tempo durchs turbulente Trugbild unserer Sprache.

D i a l o g # 1

Der eine: „Hör mal, das mit den Ausschüssen im Bundestag ist ja wohl nur noch peinlich – oder?“

Die andere: „Ach ja, du wunderst dich über solche parlamentarischen Peinlichkeiten? Ich nicht.“

Der eine:

„Geht es im Parlament denn nicht ums Allgemeinwohl, für die wir die Parlamentarier gewählt haben?“

Die andere:

„Das ist jetzt nicht dein Ernst oder? Da geht es um parteipolitische Vorteile, Stellen, Gehälter, Pensionen und Seilschaften, um die Macht zu festigen, die einem gerade auf Zeit geliehen wurde, sonst nichts. Deshalb konnte die AfD auch den Ausschussvorsitz des Innenausschusses ergattern, das war von FDP und Grünen reines Kalkül, sonst nichts.“

Der eine:

„Und ich hatte gedacht, jetzt käme die Wende nach der alternativlosen Lähmung unter der Vorgängerregierung.“

Die andere:

„Wende? Was war denn die sogenannte Stunde Null, damals? Eine Wende, eine Zäsur? Nee, man hüllte sich über das Vergangene in Schweigen und machte als Persil-Gereinigter einfach weiter. Und 1989? Eine Zäsur? Nur insofern ein paar Bundesländer kompromisslos mit ins Boot geholt wurden, der alte Kurs ging aber unvermindert weiter, gnadenlos.“

Die andere:

„Und so ist es jetzt auch mit der sogenannten AMPEL: die macht genau da weiter, wo die alten aufgehört haben: Pandemie und Kapitalie. Zwei unangenehme Burschen, die beiden – weil unaufhaltsam und rücksichtslos gegen alles und jeden – sollen nun mit einer neuen Mannschaft bekämpft und besiegt werden.“

Der eine:

„Und du willst mir jetzt wohl klar machen, dass sich da nichts ändern wird, also keine Wende in der Klimapolitik, keine Wende…“

Die andere:

„Du sagst es. Oder glaubst du wirklich, dass jetzt das Ende des Individualverkehrs in Ballungszentren ansteht, dass kostenloser Shuttle-Verkehr (elektrisch angetrieben, versteht sich) stattdessen alle fast lautlos von A nach B bringen wird – ohne Staus, ohne Hupkonzerte, ohne Abgase, dass Deutschland nun die Schweiz überholen wird als Eisenbahnnetz-Weltmeister?“

Der eine:

„Mit anderen Worten: die Wende besteht lediglich darin, dass neues Vokabular für alte Probleme ausprobiert wird, dass aber hinter der sprachlichen Euphorie der Ampler die alten Muster weiter den ächzenden Planeten malträtieren werden – eben nur ein bisschen weniger offensichtlich, nur ein bisschen weniger aggressiv, nur etwas verzögerter?“

Die andere:

„Na, da staune ich aber: Du lernst ja richtig flott, fein. Die Pandemie wie die Kapitalie kennen eben nur ein Muster: Mehr, schneller, radikaler.

Der eine:

„Ja, und wir wollen ja weiter möglichst günstig Klamotten einkaufen, möglichst günstig das Bestellte sofort vor der Tür haben; ungünstig bleibt es aber weiter für die, die es machen müssen.“ (Fortsetzung folgt)